Aktuell

1986 traf mich die HIV-Diagnose schockartig und ich war hilflos, wie ich damit umgehen musste. Am meisten half mir in dieser Zeit, mit Menschen zu sprechen, die dasselbe erlebten. Darüber zu sprechen ermöglichte es uns, besser zu verstehen, was mit uns geschah und mit HIV umgehen. Durch das immer wieder aktive damit Auseinandersetzen gelang es mir, den Sinn darin zu erkennen.

Aaron Antonovsky (1979) schuf - im Gegensatz zur Pathogenese, die von der Entstehung von Krankheiten lehrt - die Salutogenese, die Lehre wie Gesundheit entsteht. Er beschrieb das Kohärenzgefühl mit den Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl können Stressoren im Alltag besser bewältigen und sie fühlen sich gesünder. Im HIV-Bereich wird „psychosoziale Unterstützung“ international für Menschen mit HIV klar und deutlich eingefordert. Solche psychosoziale Unterstützung umfasst dieselben Aspekte, die das Kohärenzgefühl ausmachen: sie erhalten Antworten auf ihre Fragen rund um HIV, lernen damit umzugehen und zu ergründen, ob und welchen Sinn es in ihrem Leben macht.

Seit wir mit HIV leben, haben Gespräche darüber in unterschiedlichen Formen von Selbsthilfe geholfen, HIV und seine Bedeutung für uns besser zu verstehen und unser Kohärenzgefühl nachhaltig zu entwickeln. Wir sprachen über unsere Sorgen, Krankheitsbilder und Überlebensstrategien, Ärztewahl, die Vor- und Nachteile von ART und wie wir mit HIV im Alltag zurechtkommen. Zu einer Art Wunderwaffe wurde die Liebe, die sich immer wieder manifestierte, indem wir uns gegenseitig bestärkten und respektierten, unterstützten und vertrauten. Es erfüllt mich darum mit Wehmut, dass viele HIV-Selbsthilfegruppen in den vergangenen Jahren verschwunden sind. Damit sind wichtige Gefässe zur psychosozialen Unterstützung und nachhaltigen Stärkung des Kohärenzgefühls verloren gegangen.

Aktuell verfügen in der Schweiz noch die HIV-Aidsseelsorge in Zürich und der Verein PVA Genève über Räume, in denen sie regelmässig Aktivitäten von und mit Menschen mit HIV organisieren. Menschen, die sich neu mit HIV infizieren, können sich nach wie vor an die regionalen Aids-Hilfen wenden, wo sie professionell beraten und begleitet werden. Ermutigend ist, dass genau dort auch neue Angebote für Menschen mit HIV entstanden.

"Positive Frauen Schweiz" zum Beispiel, entstanden in Kooperation von HIV-Ärztinnen und Frauen mit HIV, organisiert Selbststärkungstreffen. Diese sind thematisch ausgerichtet, zu Themen wie "Reden über HIV", "Schönheit/Körpergefühl und HIV", "Kommunikation mit/beim Arzt". Grosser Wert wird auf den persönlichen Austausch gelegt, mit gegenseitiger Unterstützung und Teilen von Erfahrungen. Aktuell finden die Selbststärkungssitzungen in Zürich (2 Gruppen), Bern und Weinfelden statt, zumeist monatlich.

Neue und innovative Wege geht die Aids-Hilfe Bern mit ihrem „peer-to-peer“ Pilotprojekt: Nachdem die „alte“ Selbsthilfegruppe sich aufgelöst hatte, entstand ein neues Angebot: erfahrene, seit Jahren mit HIV lebende Personen beraten als sogenannte „peers“ Menschen mit HIV, die Fragen rund um HIV, Medikamente und Nebenwirkungen haben und individuelle Unterstützung im Alltag benötigen. Das Projekt richtet sich auch an Migrantinnen und Migranten.

Weil ich durch unsere Selbsthilfe unter Menschen mit HIV ein starkes Kohärenzgefühl entwickeln durfte, will ich dazu beitragen, dass Frauen mit HIV Möglichkeiten haben, sich mit „peers“ auszutauschen und ihr Kohärenzgefühl zu stärken.

Romy Mathys / Mai 2016

Links:
HIV-Aidsseelsorge Zürich: www.hiv-aidsseelsorge.ch
PVA Genève: www.pvageneve.ch
Positive Frauen Schweiz: www.positive-frauen-schweiz.ch
Aids-Hilfe Bern: www.ahbe.ch

Die Europäische Patientenakademie zu therapeutischen Innovationen (EUPATI 1) hat sich zum Ziel gesetzt, Ausbildungsmaterial zu entwickeln, welches Patienten und deren Organisationen wissenschaftlich fundiert, objektiv und in verständlicher Form über Forschung und Entwicklung in der Pharmazie informiert. Patienten sollen befähigt werden, ihre Rolle als Fürsprecher und Berater wahrzunehmen, und dies sowohl gegenüber ihrem Arzt, aber auch bei einer Beteiligung an klinischen Studien und schliesslich auch gegenüber Zulassungsbehörden und Ethik-Kommissionen.

Das Ziel des auf fünf Jahre angelegten EUPATI Projekts ist eine wegweisende, hoch qualifizierte und objektive Ausbildung von Patienten auf dem Gebiet therapeutischer Innovationen. Sie soll Patienten zur Mitwirkung und zur Mitsprache befähigen bei Themen wie Entwicklung und Erprobung neuer Medikamente, bei der Arzneimittelsicherheit sowie beim Zugang zu Therapien. Patienten als Laien im Gesundheitssystem sowie schwer erreichbare Patientengruppen sollen besser informiert werden, indem das öffentliche Bewusstsein für die Entwicklung neuer Therapien gefördert wird. Ziel ist, dass Patient, Arzt, Pflegepersonal aber auch die Forscher bei klinischen Studien auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und dass die medizinische Behandlung zu einem gemeinsamen Projekt wird. Für mündige Patienten wird so eine medizinische Behandlung oder auch der Einbezug in einen klinischen Versuch eine Zusammenarbeit zwischen gleichwertigen Partnern, mit vollem Informations- und Mitspracherecht. Hierzu gehören insbesondere Patientenrechte bei klinischen Versuchen, aber auch der informed consent 2 bei Test und Behandlung.

 

Notwendigkeit auch in der Schweiz erkannt

Diese Anliegen sind mittlerweile auch bei uns ein Thema. Gleich drei Postulate [Kessler (12.3100), Gilli (12.3124) und Steiert (12.3207) 3] befassen sich auf parlamentarischer Ebene damit:

«In struktureller Hinsicht existiert keine Dachorganisation, die repräsentativ und aufgrund ihrer Ressourcenausstattung die verschiedenen Patienteninteressen bündeln und diese stellvertretend für die diversen Patientenorganisationen in gesundheitspolitischen Prozessen einbringen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass die einzelnen Organisationen aufgrund der knappen personellen und finanziellen Mittel oft nicht in der Lage sind, sich in die vielfältigen gesundheitspolitischen Themen vertieft einzuarbeiten und dementsprechend auf Bundes- und Kantonsebene zu den zahlreichen Vorlagen Stellung oder in allen relevanten Gremien Einsitz zu nehmen.»

In der Tat gibt es in der Schweiz viele Patientenorganisationen. Leider sind sie wenig vernetzt und meist auf bestimmte Krankheiten fokussiert. Wegen knapper Ressourcen können sie nur sehr beschränkt agieren bzw. öffentlich in Erscheinung treten. Ein nationales Netzwerk wie es EUPATI sein möchte, könnte diese besser miteinander verbinden und stärken und ihnen ein einheitlicheres Auftreten gegenüber Behörden, der pharmazeutischen Industrie und der Öffentlichkeit ermöglichen. EUPATI möchte den Patienten helfen, sich gezielter zu bilden und zu effizienten Beratern in der medizinischen Forschung zu werden. Dazu hat EUPATI umfassendes Unterrichtsmaterial entwickelt in der Form einer internetbasierten Toolbox, einer Online-Bibliothek und eines Experten-Ausbildungsprogramms. In einigen europäischen Ländern kümmern sich solche nationale Plattformen bereits jetzt erfolgreich um die Verbreitung und Nutzung dieser Unterrichtsmittel.

 

Gründung der Schweizer EUPATI-Plattform

Seit zwei Jahren arbeitet in der Schweiz ein „National Liaison Team“ als Ad-Hoc-Arbeitsgruppe an der Planung einer Schweizer EUPATI-Plattform. Der offizielle Gründunganlass der Schweizer EUPATI-Plattform fand nun am 3. Februar 2016 im Berner Hotel Ador statt. Rund 100 Personen von Patientenorganisationen, aber auch aus der Forschung, der pharmazeutischen Industrie und von Behörden haben teilgenommen. Die SCTO hat durch ihre professionelle (sowohl personelle wie materielle) Unterstützung von Anfang an ganz wesentlich zum Aufbau der nationalen Organisation und zum Erfolg dieses Gründungsevents beigetragen. Auch die aktive Unterstützung durch das Schweizerische Heilmittelinstitut SWISSMEDIC war sehr willkommen.

Ziele von EUPATI Schweiz ist das Bekanntmachen des EUPATI Projektes und seiner Vorteile als nationales Netzwerk, das Verbreiten der EUPATI Weiterbildungsmaterialien, dann aber auch die Unterstützung von Patienten und der Öffentlichkeit beim Engagement von EUPATI Aktivitäten sowie das Stimulieren der nationalen Debatte über die Patienteneinbindung in der Arzneimittel-Forschung und -Entwicklung. Damit hofft EUPATI Schweiz sich als nachhaltiger Partner sowie auch als Gesprächspartner bei der Entwicklung von relevanten Gesundheits-Themen in Politik und Praxis zu etablieren, durch Entwickeln von Konzepten für eine gemeinsame Kommunikation und durch die Planung von Weiterbildung und Events. Dabei sollen auch die sozialen Netzwerke genutzt werden.

Das BAG, am Eröffnungsanlass vertreten durch die Vizedirektorin Dr. Andrea Arz de Falco, Leiterin des Direktionsbereiches Öffentliche Gesundheit, unterstützte in ihrer Ansprache dieses Anliegen:

«Zunehmend wurde jedoch in Auseinandersetzung mit den etablierten Playern im Gesundheitswesen erkannt, dass es unbedingt der Professionalisierung bedarf, wenn Patientinnen und Patienten sich bei ihnen Gehör verschaffen wollen. Eine der neueren Initiativen auf diesem Feld, und damit komme ich zum heutigen Anlass, ist deshalb EUPATI, European Patients' Academy on Therapeutic Innovation. Hier liegt der Fokus im Rahmen der allgemeinen Thematik des Patient Empowerment bei der Forschung, insbesondere der Entwicklung von Medikamenten. Das Ziel der Initiative ist, den Patientinnen und Patienten:

«wissenschaftlich fundierte, objektive und verständliche Informationen über Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln zukommen [zu] lassen. Sie wird die Patienten zunehmend befähigen, als gut informierte Fürsprecher und Berater aufzutreten, z. B. in klinischen Studien, gegenüber Zulassungsbehörden und Ethik-Kommissionen. (Zitat aus der EUPATI-Webseite).»

 

Was sind die Ziele der Schweizer Plattform?

EUPATI möchte ein Netzwerk aufbauen, das Patientenorganisationen besser miteinander verbindet und stärkt und ihnen damit ein gemeinsames und wirkungsvolleres Auftreten gegenüber Behörden, der pharmazeutischen Industrie und der Öffentlichkeit ermöglicht. Beim Bund und insbesondere beim BAG, renne man – wie Frau Arz de Falco ausführte – damit offene Türen ein. Die Stärkung der Versicherten sowie der Patientinnen und Patienten sei eines der grossen Ziele innerhalb von «Gesundheit 2020», der umfassenden Strategie des Bundes für das Gesundheitswesen. Diese umfasst die folgenden Massnahmen:

  • Stärkere Berücksichtigung der Versicherten und Patienten/-innen in gesundheitspolitischen Prozessen;
  • Stärkung der Gesundheitskompetenz und der Selbstverantwortung;
  • Stärkere Berücksichtigung der Rechte von Patientinnen und Patienten.

Patientinnen und Patienten seien – wie Frau Arz de Falco ausführte – oft nur unzureichend über ihren Gesundheitszustand und über Behandlungsmöglichkeiten informiert und hätten praktisch keinen Einfluss auf die Entwicklung von verbesserten Arzneimitteln und Therapien. Hier könne EUPATI einen wesentlichen Beitrag leisten.

 

Wie geht es nun konkret weiter?

Wie sollen diese Ziele erreicht werden? Vorerst geht es um den Aufbau des nationalen EUPATI-Netzwerkes unter Berücksichtigung der lokalen Bedürfnisse und Sprachen, mit Einbezug der Interessengruppen und Institutionen. Die Schweizer EUPATI-Plattform möchte Ansprechpartner sein für die verschiedenen Akteure (Forschung & Entwicklung, Behörden und Ethikkommissionen) und regelmässig entsprechende Events und Workshops durchführen, um Informationen über aktuelle Themen von nationalem Interesse zu verbreiten und den Patienten-Einbezug wie auch den Dialog mit wichtigen Playern wie Ethik-Komitees, Behörden, Sponsoren und Forschung (sowohl die akademische wie auch die pharmazeutische) zu fördern. Dabei sollen auch die Debatte über die Patentenbeteiligung und –Rechte angestossen und Partnerschaften bei Forschung und Entwicklung von Medikamenten stimuliert werden.

Konkret heisst dies, dass vorerst aus der kleinen Ad-Hoc-Projektgruppe ein Verein nach Schweizer Vereinsrecht aufzubauen ist mit Statuten, Vorstand, Sekretariat, Mitgliedern, regelmässigen Sitzungen, jährlicher GV, einer Webseite, etc. Im Vorstand sollen nebst Patientenvertretern auch Vertreter von Behörden, Forschung und der pharmazeutischen Industrie mitarbeiten. Sodann wird die eigentliche Arbeit darin bestehen, ein Netzwerk aufzubauen, Arbeitsprogramme auszuarbeiten, Ausbildungen, Workshops, Events, etc. zu organisieren und die längerfristige Finanzierung durch entsprechendes Sponsoring sicherzustellen.

 

Die Krux mit dem Sponsoring

Das letztgenannte Thema – Sponsoring und Fundraising – erfordert besondere Umsicht und Sorgfalt, geht es doch darum dass eine solche Patientenorganisation weiterhin unabhängig bleibt und jegliche Fremdbestimmung vermieden wird. Die Schweizer EUPATI-Plattform konnte zwar von einer Anschubfinanzierung für die ersten zwei Jahre von EUPATI-Europe profitieren, sollte aber nachher weitgehend finanziell selbständig werden. Die grosse Unterstützung von EUPATI-Europe bleibt jedoch weiterhin die Bereitstellung der Informationsmaterialien und die angebotene Schulung. Die Unterstützung nationaler Patientenorganisationen von Seiten der Behörden wird wohl eher eine moralische denn eine materielle bleiben. Aus Mitgliederbeiträgen, sofern solche in den Statuten überhaupt vorgesehen sind, lässt sich eine Organisation wie EUPATI Schweiz nicht finanzieren. Es bleiben somit als Sponsor vor allem die pharmazeutische Industrie, in einem beschränkten Ausmass auch die nationalen Akademien und eventuell (projektbezogen) weitere Akteure.

Es liegt auf der Hand, dass die pharmazeutische Industrie gewinnbringend arbeiten muss, um einerseits ihre Aktionäre zufriedenzustellen, um dem Kader ihre Löhne und Boni zu bezahlen und nicht zuletzt auch um die grossen Beträge, die sie in die Forschung steckt, wieder einzuholen. Dass diese Forschung viel Geld kostet – denn von den vielen Medikamenten, die am Anfang einer Erprobung stehen, werden am Schluss nur ganz wenige als Medikamente schliesslich auch zugelassen – liegt auf der Hand. Als Patienten sind wir einerseits dankbar, denn viele von uns würden ohne die grossen Vorschritte in der Pharmaforschung nicht überleben, die pharmazeutische Industrie «profitiert» also von unserem Überleben, denn wir sind – solange wir leben – deren wichtigste Kunden. Auf der andern Seite sind wir aber auch über die teilweise horrenden Preise für gewisse Medikamente schockiert und fragen uns, ob und wieweit diese gerechtfertigt sind.

Mittlerweile nimmt die pharmazeutische Industrie uns Patienten auch als Menschen wahr; im Gegensatz zu den Behörden, für die wir bisher nur Futter für ihre Statistiken sind. Dass dieses Interesse der pharmazeutischen Industrie an uns Patienten nicht nur menschenfreundliche Hintergründe hat, wissen wir auch. Auf der andern Seite ergibt sich aber hier die Möglichkeit einer Zusammenarbeit die beiden Seiten etwas bringt. Die Industrie kann ihre Produktion besser auf die Bedürfnisse des Marktes (sprich der Patienten) abstimmen und der Patient erhofft sich Verbesserungen bei der Behandlung und in Bezug auf seine Lebensqualität. Eine solche Zusammenarbeit bedingt aber auch, dass deren Spielregeln von Anfang klar festgelegt und auf die Bedürfnisse beider Seiten abgestimmt werden, und zwar so, dass die Patientenorganisationen ihre Unabhängigkeit bewahren können. Die Bedeutung dieses Aspektes war uns von Anfang an klar und wir sind am Überlegen, wie solche Zusammenarbeiten strukturiert werden sollten. Der Leser wird daher unsere Verärgerung verstehen, wenn gewisse Journalisten der Schweizer EUPATI-Plattform bereits nach der Gründung vorwerfen, von der Pharma-Industrie gesteuert zu sein, und dies nota bene bevor überhaupt erste offizielle Kontakte mit Pharmavertretern stattgefunden haben.

Hansruedi Völkle / April 2016

 

Links:
http://www.scto.ch/de/Veranstaltungen/Patient-Empowerment/EUPATI-CH-Gruendung-3-Februar-2016.html
http://www.srf.ch/gesundheit/gesundheitswesen/umstrittene-patientenschulung-wer-profitiert-von-eupati
https://www.eupati.eu/de/eupati-landesplattform-schweiz/


1 http://www.patientsacademy.eu/index.php/en/
2 https://depts.washington.edu/bioethx/topics/consent.html
3 https://www.google.ch/search?q=Postulat+Patienteneinbezug&ie=utf-8&oe=utf-8&gws_rd=cr&ei=PsXzVvzUIYPm6AT0oIToAg
4 SCTO = Die Swiss Clinical Trial Organisation ist die zentrale Kooperationsplattform für die patientenorientierte, klinische Forschung in der Schweiz. Die Trägerschaft umfasst die grossen Spitäler der Schweiz, die Dekane der medizinischen Fakultäten, sowie die SAMW. Adresse: Swiss Clinical Trial Organisation. Petersplatz 13, 4051 Basel: http://www.scto.ch/de/Aktuell.html

Nachdem in gewisser Weise bereits ein möglichst früher Einsatz der ART ein sehr effizientes Mittel ist, Neuinfektionen zu reduzieren, könnte das Feuer nun auch in den letzten ‚Infektionsherden‘ zum Erlöschen gebracht werden.

Wir müssen heute einsehen, dass es für einige promisk lebende Männer (meist MSM, auch MSW) sehr schwierig ist, sich an die klassischen Safer Sex-Regeln zu halten. Häufig spielen auch Partydrogen eine wichtige Rolle (ChemSex). Es liegt nicht in unserem Ermessen, dies zu qualifizieren. Lange gab es für dieses Setting keine Strategien, heute gibt es aber die äusserst effiziente PrEP. Vor allem aus London, Paris und den USA gibt es eine zunehmende Zahl neuer Erfahrungswerte, die die Möglichkeiten der PrEP klar zeigen. Durch die prophylaktische Einnahme von Truvada (einem Kombipräparat, das bekanntlich auch als Element einer regulären ART eingesetzt werden kann) wird die Übertragungskette für das HI-Virus unterbrochen. Es geht darum, speziell denen, die inadäquate Risikostrategien haben, ein hocheffizientes Prophylaxeinstrument zur Verfügung zu stellen. Es hat sich in diversen Studien gezeigt, dass dies wesentlich effizienter ist als eine kondomorientierte Prävention. Das macht vor allem aus der Perspektive Sinn, dass damit mittelfristig die Prävalenz in der Community gesenkt werden kann. Der Einwand, dass dies nur für HIV und nicht für die anderen STI funktioniert, ist absolut berechtigt, andererseits ändert sich ja am Risikoverhalten dieser eng definierten Gruppe eh nichts, es ist also kein Anstieg der anderen bakteriellen oder viralen STI zu erwarten.

Wir fordern aus diesen Gründen von unseren Behörden und Organisationen (BAG, Swissmedic, SantéSuisse) ein unkompliziertes Zulassungsprozedere und eine akzeptable Verrechnungspraxis für Truvada im Sinne einer PrEP. Die Krankenkassen müssen einsehen, dass es entgegen ihrer eigentlichen Aufgabe, nur konkrete Krankheitskosten zu übernehmen, absolut Sinn machen kann, auch präventive Massnahmen zu unterstützen.

In Frankreich nota bene, und teilweise auch in Grossbritannien und den USA ist diese Prävention bereits möglich. Leider ist unser nur auf kurative Techniken ausgelegtes Gesundheitswesen (KVG) in dieser Hinsicht etwas sperrig und nicht dynamisch.


VValo Bärtschi / April 2016

Wie steht es um Arbeitsfähigkeit und Beschäftigungsgrad von Menschen mit HIV unter Therapie? Sehr viele Daten gibt es dazu nicht – eigentlich erstaunlich, wo sich doch dank der sehr erfolgreichen Therapien in diesem Bereich einiges verändert hat. Die Forscher der Schweizerischen HIV-Kohorte SHCS untersuchten dazu die Daten von Patienten unter sechzig Jahren, welche zwischen 1998 und 2012 eine HIV-Therapie begannen.

Noch vor zwanzig Jahren bedeutete die Diagnose HIV eine mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Erkrankung und damit oft auch den Verlust des Arbeitsplatzes. Dank der funktionierenden antiretroviralen Therapie hat sich das Bild verbessert. Es wurden aber einige Hürden beobachtet, welche den Patienten den Wiedereinstieg ins Berufsleben erschwerten – wichtige Themen waren die Nebenwirkungen der Therapie sowie Diskriminierungen. Die SHCS untersuchte die Lage letztmals im Jahr 2004 und bezifferte den jährlichen Produktionsverlust von 5'000 Patienten auf 122 Millionen Franken. Damals war die Arbeitsunfähigkeit klar verbunden mit höherem Alter, aids-definierenden Erkrankungen, früherem Gebrauch von intravenös verabreichten Drogen und tiefen CD4-Werten. Eine bessere Ausbildung sowie eine stabile Partnerschaft waren mit einem höheren Beschäftigungsgrad verbunden. Damit war auch klar, dass sozioökonomische Faktoren das Geschehen beeinflussten.

In der eben publizierten neuen Untersuchung wurden Daten von 5’800 Personen berücksichtigt 1. Davon waren drei Viertel bei Therapiebeginn voll arbeitsfähig; jeder zehnte arbeitete Teilzeit und 16% waren arbeitsunfähig. Die Hälfte der arbeitsunfähigen Gruppe war unter Therapie innerhalb eines Jahres entweder teilweise oder ganz arbeitsfähig.

Gewannen im Zeitraum 1998 bis 2001 nur 24% der Patienten ihre volle Arbeitsfähigkeit innerhalb eines Jahres wieder, so stieg dieser Wert zehn Jahre später auf 41%. Der Beschäftigungsgrad der Patienten erhöhte sich aber nicht. Waren 1998 bis 2001 bei Therapiebeginn zwei Drittel der Patienten voll arbeitsfähig, waren es zehn Jahre später bereits 86%. Über einen Zeitraum von 5 Jahren verbesserte sich die Situation ebenfalls. Fast alle nach einem Jahr Therapie arbeitsfähigen Patienten konnten nach 5 Jahren Therapie immer noch einer Arbeit nachgehen (87,5%); nur bei knapp 6% hatte sich die Arbeitsfähigkeit verschlechtert. Allerdings lebten nur 71% der arbeitsfähigen Patienten auch vom Arbeitseinkommen. Die arbeitsunfähigen Patienten lebten zu fast 90% von einem Einkommen aus Versicherungen.

Die Daten zeigen eine deutliche Verbesserung der Arbeitsfähigkeit der HIV-Patienten seit 1998. Trotz tiefer Arbeitslosigkeit in der Schweiz hat sich aber der Anteil der Patienten, die ganz von ihrem Arbeitseinkommen leben, nicht erhöht.

Die offensichtlichen Fortschritte in der Behandlungsqualität lassen sich über die 14-jährige Beobachtungsperiode gut nachvollziehen. Eindeutig ist der bessere Gesundheitszustand der Patienten beim Therapiebeginn: Seit vielen Jahren wird in der Schweiz die Therapie eher früh eingeleitet und seit einiger Zeit sogar gleich nach der Diagnose. Es zeigt sich aber, dass wer einmal erkrankt und deswegen arbeitsunfähig wird, nur sehr schwer wieder in einen normalen Arbeitsprozess integrierbar ist. Es wäre jetzt sehr wichtig, herauszufinden, welche Massnahmen diesen Missstand beheben könnten. Dabei könnte man zum Beispiel an Weiterbildung von Vorgesetzten denken oder die Kommunikation zwischen behandelnden Ärzten und Arbeitgebern verbessern. Auch eine Aufklärungskampagne wäre sicher eine gute Idee.

Walter Bärtschi, David Haerry / Mai 2016

 

1 E. Elzi et al, “Ability to Work and Employment Rates in Human Immunodeficiency Virus (HIV)-1-Infected Individuals Receiving Combination Antiretroviral Therapy: The Swiss HIV Cohort Study”, OFID, DOI: 10.1093/ofid/ofw022

HIV-Patienten sind sie geläufig: Kombinationspräparate mit zwei oder drei Medikamenten in einer Tablette. Das ist praktisch, vor allem bei lebenslanger Dauertherapie. Für manche Patienten mit Hepatitis C haben die Kombinationspräparate aber eine Kehrseite. Der Positivrat Schweiz hat deswegen bei Swissmedic nachgefragt.

Im HIV-Bereich haben die Kombinationsprodukte eine interessante und bereits längere Geschichte.

  • Combivir: Eine Kombination von AZT und 3TC (heute kaum mehr verwendet), europäische Zulassung März 1998
  • Trizivir: AZT & 3TC & Abacavir (heute kaum mehr verwendet), europäische Zulassung Dezember 2000
  • Kivexa: 3TC & Abacavir, europäische Zulassung Dezember 2004
  • Truvada: Tenofovir & Emtricitabine, europäische Zulassung Februar 2005
  • Kaletra: Lopinavir & Ritonavir, europäische Zulassung März 2001
  • Atripla: Efavirenz & Emtricitabine & Tenofovir, europäische Zulassung Dezember 2007. Atripla war die erste komplette HIV-Therapie in einer Pille einmal pro Tag.
  • Eviplera: Rilpivirine & Tenofovir & Emtricitabine, europäische Zulassung November 2011
  • Stribild: Elvitegravir & Cobicistat & Emtricitabine & Tenofovir, europäische Zulassung Mai 2013
  • Triumeq: Dolutegravir & 3TC & Abacavir, europäische Zulassung September 2014

Aus unterschiedlichen Gründen sind die HIV-Substanzen aber fast alle auch als Einzelprodukte zugelassen und erhältlich. Dadurch ist es einfach, in Einzelfällen die Dosierung einer bestimmten Substanz nach unten oder nach oben anzupassen. Nötig ist dies zum Beispiel bei Interaktionen mit anderen Substanzen, oder um Unverträglichkeiten zu vermeiden.

Die neuen Hepatitis C Therapien kommen nun ebenfalls als Kombinationsprodukte auf den Markt.

  • Harvoni: Sofosbuvir & Ledipasvir, europäische Zulassung November 2014
  • Viekirax: Paritaprevir & Ritonavir & Ombitasvir, europäische Zulassung Januar 2015
  • Zepatier: Grazoprevir & Elbasvir, schweizerische Zulassung 1. April 2016 (europäische Zulassung pendent)velpatasvir
  • Sofosbuvir & Velpatasvir: Zulassungen noch pendent

Das Problem: Einzelsubstanzen gibt es kaum – Ledipasvir und Velpatasvir gibt es nur in Kombination mit Sofosbuvir; dasselbe gilt für die Bestandteile von Viekirax und Zepatier

Warum ist das ein Problem?

  • Patienten mit schweren Leberschäden und Niereninsuffizienz können weder mit Harvoni noch mit Viekirax behandelt werden. Die Chance für diese Patienten wäre Zepatier, doch müsste man Grazoprevir um die Hälfte niedriger dosieren.
  • Wenn man die einzelnen Substanzen freier kombinieren könnte, liesse sich die heute übliche Therapiedauer von 12 Wochen auf bis zu 3 Wochen verkürzen. Das wäre erstens unglaublich praktisch und zweitens ein echter Renner puncto Kosten.

Es ist uns klar, dass die Zulassung einzelner Substanzen aufwendiger ist. Sie ist aber im Interesse der Patienten, öffentlichen Gesundheit und Krankenkassen – und damit letztendlich auch der Industrie. Dieselbe Industrie, welche aus Marketinggründen bloss Kombinationsprodukte bereitstellt, propagiert anderswo „personalisierte Medizin“ – genau auf die Patienten abgestimmte Dosierungen und Kombinationen, welche wirksamer und verträglicher sind. Das Eine lässt sich ohne das Andere nicht haben.

Die Swissmedic schreibt uns nun, dass man leider seitens der Behörde die Industrie nicht zwingen könne, die Einzelsubstanzen ebenfalls zur Zulassung einzureichen. Das ist in Europa und den USA nicht anders. Und doch: das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren wollten viele Behörden Kombinationsprodukten keinen Segen erteilen.

Eine Umfrage bei anderen Patientengruppen zeigt, dass das Problem ein grösseres ist und auch andere Indikationen betrifft. Sehr unglücklich ist man insbesondere bei Medikamenten für ältere Patienten, aber auch in Spitälern. Wir bleiben deshalb am Ball und arbeiten eng mit unseren europäischen Kollegen zusammen. Vielleicht lässt sich hier auf längere Sicht etwas erreichen.

David Haerry / April 2016