Aktuell

Als Chemsex (auch bekannt unter «Party and Play» mit dem Kürzel PNP) bezeichnet man eine Erscheinung der MSM-Subkultur, bei der es um Sex unter dem Einfluss von psychoaktiven Drogen geht. In einigen Londoner Stadtteilen wie Lambeth, Southwark und Lewisham wurde dies im Rahmen der Chemsex-Studie erstmals eingehend untersucht 1.

Ähnliche Chemsex-Szenen gibt es auch in anderen europäischen Grossstädten; sie sind allerdings weniger gut dokumentiert als jene von London. Chemsex findet beispielsweise in Sexclubs, Saunas, Darkrooms aber auch — nach Verabredung via Datingplattformen — im privaten Rahmen statt. Smartphone Apps erleichtern dabei die Kontaktaufnahme und gleichzeitig auch den Vertrieb der Drogen. Die Teilnehmer sind zwischen 20 und 60 Jahre alte MSM. Am stärksten vertreten ist die Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen.

Stimulierende und enthemmende Substanzen

In den meisten Fällen kommen psychoaktiven Drogen wie Chrystal Meth (Methamphetamin), GHB/GBL (-Hydroxybuttersäure bzw. -Butyrolacton), Mephedron 2 (4-Methylmethcathinon) und in geringerem Ausmass auch Kokain und Ketamin zur Anwendung. Diese Substanzen sind alle – bis auf Ketamin – stimulierend, erhöhen den Blutdruck, beschleunigen die Herzfrequenz und lösen euphorische und enthemmende Gefühle aus. Bei einigen Personen führen sie auch zu einer verstärkten sexuellen Erregung einhergehend mit erhöhter Risikobereitschaft. Unter dem Einfluss dieser enthemmenden Drogen kommt es oft zu ungeschütztem Sex, auch mit wechselnden Partnern, der oft Stunden oder gar ganze Wochenenden dauern kann. Da diese Substanzen eher erektionshemmend wirken, werden zusätzlich Potenzmittel wie Viagra eingenommen. Poppers 3. sind in diesem Umfeld bereits zur (eher harmlosen) Standarddroge geworden, daher werden sie in der genannten Studie gar nicht erst erwähnt.

Folgen für Körper, Seele und das (Liebes-)Leben

Der regelmässige Konsum von psychoaktiven Drogen führt zu irreversiblen somatischen und psychischen Schäden. Durch die enthemmende Wirkung der Substanzen steigt auch das Übertragungsrisiko von HIV und Hepatitis C sowie anderer sexuell übertragbarer Infektionen. Zudem besteht die Gefahr der Überdosierung (auch beim Mischen verschiedener Drogen), der Abhängigkeit sowie weiterer negativer Folgeschäden für die Gesundheit. Das Spektrum reicht von körperlichen, seelischen, sozialen und beziehungsbezogenen Problemen, die sich ungünstig auf die soziale Bindungsfähigkeit und die Beziehungsdynamik im Privatleben und sogar im Berufsleben auswirken können. Häufig kommt es zu Depressionen, Paranoia, Angstzuständen, Aggressionen, Panikattacken, Krämpfen und Bewusstseinsverlusten. Leider gab es bereits einige Todesfälle. Mit dem Phänomen geht ein weitverbreiteter Markt für die Herstellung und den Vertrieb dieser, in den meisten Ländern verbotener Substanzen einher. Die Tatsache, dass deren Qualität und Reinheit oft zweifelhaft sind, birgt zusätzliche Risiken für die Anwender.
Wer sich an Drogenkonsum beim Sex gewöhnt hat, kann Sex nicht mehr anders geniessen. Sex unter psychoaktiven Drogen wird bei einigen zu einem triebgesteuerten Abreagieren statt kopf-gesteuertem, lustvollem und gemeinsamem Geniessen. Wenn man die Drogen absetzt, dauert es bis zu einem Jahr inklusive Psychotherapie, um wieder einigermassen normalen Geschlechtsverkehr haben zu können.
Während gewisse Berichte von einer Zeitbombe sprechen, mahnen andere zur Mässigung und warnen vor Panikmache. Es gibt bereits Hinweise, dass Chemsex wie bei jedem unsafen Sex-Verhalten zu einem erneuten Anstieg der HIV-Infektionen bei den MSM führen könnte. Zudem befürchtet man, dass die Betroffenen auf die Dauer ihr Leben ruinieren könnten. Eine Zunahme der HIV-HCV Ko-Infektionen wurde bereits festgestellt: Bei den HIV-Infizierten in London sind 7 Prozent koinfiziert 4. Die PrEP bietet zwar einen Schutz gegen eine HIV-Ansteckung, nicht jedoch gegen HCV und andere sexuell übertragbaren Krankheiten.

Metropolen sind Hotspots

Obwohl Chemsex – vor allem unter Crystal-Meth und Mephedron – anfänglich vor allem in London verbreitet war, haben sich entsprechende Szenen auch in anderen Grossstädten Europas mit ausgeprägter Gaykultur etabliert, so auch in der Schweiz. Gemäss einer Studie der Deutschen AIDS-Hilfe5 liegt Zürich beim Konsum von GBL/GHB, Ketamin, Methedron oder Crystal Meth im Mittelfeld europäischer Grossstädte (in abnehmender Reihenfolge):

  1. Manchester
  2. London
  3. Amsterdam
  4. Barcelona
  5. Zürich
  6. Madrid
  7. Berlin
  8. Paris
  9. Brüssel
  10. Köln/Bonn
  11. Wien
  12. Rom

Beim Kokainkonsum liegt Zürich an dritter Stelle hinter Antwerpen und Amsterdam, Basel und Genf liegen auf den Rängen 9 und 10. Auch Ecstasy wird in der Schweiz häufig konsumiert, wogegen Amphetamine und Crystal Meth eher gemieden werden6. Gemäss der britischen Studie ist der Konsum bei privaten Sexpartys zwei- bis viermal höher als bei öffentlichen Sexpartys1. Die Studie präzisiert allerdings nicht, wo welche Drogen zur Anwendung gelangen. Messungen im Abwasser einer Agglomeration geben heute Aufschluss über den Verbrauch psychoaktiver Substanzen in der betreffenden Stadt 7. Bei den Messreihen ist bei Ecstasy am Wochenende gegenüber den übrigen Wochentagen ein Anstieg um einen Faktor 4 zu erkennen. Bei Crystal Meth beispielsweise liegt in der Schweiz erstaunlicherweise die Region Neuenburg an erster Stelle, gefolgt von den Städten Zürich, Basel, Bern, Winterthur, St. Gallen und Lausanne 8.

Chemsex wird zum «State of the Art»

Beim sozio-psychologischen Background spielen sicher Vereinsamung und ein vermindertes Selbstwertgefühl eine gewisse Rolle. Oftmals gehen auch internalisierte Homophobie und ein ausgeprägtes, unkontrolliertes Suchtverhalten – auch im Bezug auf Alkohol und Tabak – einher. Dies treibt viele Schwule zu diesen Treffen mit anonymen Sexkontakten und oft in eine Drogenabhängigkeit, aus der sie sich ohne fremde Hilfe nicht mehr befreien können. Problematisch ist wohl, dass bei diesen Sexpartys Chemsex zum «State of the Art» wird und der Gruppendruck die Teilnehmer zum Drogenkonsum drängt. Weitere Ursachen sind wohl die leider immer noch vorhandene Ausgrenzung von Schwulen durch die Gesellschaft aber auch eine Veränderung der Gaykultur. Früher kam es in Gay-Bars und -Clubs häufiger zu menschlichen Begegnungen, man sprach miteinander und erst danach ging es — sofern Anforderungen und Profile sich einigermassen deckten — zur Sache. Heute geht es in Saunas, Darkrooms und Sexclubs zuerst anonym und triebgesteuert zur Sache. Die psychoaktiven Drogen verhindern, dass es danach noch zu einer menschlichen Begegnung kommt, obwohl im Grunde genommen die meisten genau das suchen.

Effekt ist langfristig nicht «befriedigend»

Die Chemsex-Studie schildert eindrücklich die Auswirkungen für die Anwender: «Ein grosser Teil der Männer litt unter Problemen im Hinblick auf ihr Selbstwertgefühl oder das sexuelle Selbstvertrauen und berichteten, dass sie diese Probleme mit Drogen überwinden (oder zumindest verdecken) können. Während die meisten Teilnehmer angaben, dass Drogen die sexuelle Erregung oder die Lust steigern können, erklärten einige, dass sie regelmässig auf solche Drogen zugreifen, weil sie es als schwierig oder unmöglich empfinden ohne diese Drogen Sex zu haben 9.» Gemäss der Untersuchung könnten Drogen ein intensiveres sexuelles Erlebnis und die Möglichkeit schaffen, mit einem anderen Menschen in Verbindung zu treten, wenngleich dieser Effekt häufig nur von kurzer Dauer sei. Zudem ermögliche der Drogenkonsum auch längere sexuelle Begegnungen, so dass Sex mit mehreren Männern oder über einen längeren Zeitraum hinweg sowie vielseitigerer oder gewagterer Sex möglich sei. Diejenigen Studienteilnehmer, die sich für die Injektion von Drogen, insbesondere Crystal Meth entschieden hatten, gaben an, dass diese Art des Konsums zu noch extremerem Sex führe als eine andere Form der Verabreichung. In der Studie wird aber auch die Kehrseite von Chemsex ersichtlich: «Während die meisten Teilnehmer das Gefühl von sexuellem Abenteuer schätzten, äusserten sich einige Männer besorgt darüber, dass sie ihre eigenen sexuellen Grenzen überschritten haben könnten und sie bereuten dieses Verhalten. Obgleich Drogen das sexuelle Erleben auf vielfältige Weise steigern konnten, gab die Mehrheit der Männer an, mit ihrem Sexleben nicht zufrieden zu sein. Viele wünschten sich einen langfristigen Partner für intimeren und emotional verbundeneren Sex und waren der Ansicht, dass Drogenkonsum oder ein enger Kontakt zu sozialen Netzwerken von Männern, die Chemsex vollziehen, nicht dazu führen werde 9.»

Praktische Ansätze zur Prävention

Es ist notwendig, dass Anwender von Chemsex über die Folgen aufgeklärt werden. Die Studienautoren empfehlen jedoch, auf eine soziale Marketingkampagne über die Gefahren von Chemsex (weder in Lambeth, Southwark, Lewisham noch in London oder landesweit) zu verzichten9. Nur wenige der Anforderungen, die in diesem Projekt offengelegt wurden, liessen sich über einen sozialen Marketingansatz erfüllen. Stattdessen hebt die Analyse eine Reihe von allgemeinen politischen und praktischen Ansätzen der Prävention hervor:

  1. Wir empfehlen die Produktion und Verteilung von verschiedenen Informationsquellen zur Harm Reduction bei Drogenkonsum.
  2. Wir empfehlen die Sicherstellung des Zugangs zu schwulenfreundlichen Drogen- und Sexualberatungsstellen für schwule Männer. Diese sollten Kompetenzen im Umgang mit psychosozialen Aspekten ihrer Gesundheit sowie mit den Folgeschäden von Chemsex haben.
  3. Wir empfehlen die koordinierte Zusammenarbeit mit Managern von Sex-Clubs zur Erarbeitung von eindeutigen schadensbegrenzenden Richtlinien und Vorgehensweisen.
  4. Wir empfehlen die koordinierte Zusammenarbeit (auf lokaler, landesweiter und internationaler Ebene) mit Unternehmen und Schwulenmedien (darunter auch die, die soziale Netzwerk-Apps und Webseiten zur Verfügung stellen), um Möglichkeiten der Gesundheitsförderung und Schadensreduzierung im Rahmen der unternehmerischen Verantwortung gegenüber den Nutzern zu erörtern.

Angebote

Ein hervorragendes niederschwelliges Angebot an medizinischer Beratung und Unterstützung wird in London angeboten. Das Chelsea and Westminster Hospital offeriert im Auftrag des NHS Foundation Trust an der Dean Street 56 im Londoner Stadtteil Soho einen medizinischen und psychosozial Dienst unter dem Namen Dean Street Express [Link : http://www.chelwest.nhs.uk/services/hiv-sexual-health/clinics/dean-street-express]:

«Dean Street Express is designed for people without symptoms wanting a check-up for sexually transmitted infections. The service — based in Soho — uses the latest technology to give you rapid results. You need to reserve a timeslot to use this service. Dean Street Express is suitable for you if are symptom-free (haven't noticed anything wrong), don't need treatment or just want a routine sexual health check-up.»

Zudem gibt es mehrere erläuternde Video-Clips [Link http://dean.st/films/] zum Thema Chemsex.

In Zürich gibt es die Möglichkeit, die Drogen im Drogeninformationszentrum (DIZ) [Link http://saferparty.ch/diz.html] testen zu lassen sowie das gayfriendly Beratungsangebot von ARUD (http://www.arud.ch/) zu nutzen. Das DIZ mit seinem ausführlichen Harm Reduction Programme publiziert auf seiner Web-Seite (Link http://saferparty.ch/warnungen.html) eine regelmässig aktualisierte Liste der in der Szene angebotenen psychoaktiven Drogen. Diese enthält eine Abbildung der jeweiligen Pille (Angabe von Farbe, Form und Grösse) und gibt Auskunft zu Inhalt und Dosierung der entsprechenden Substanz. Dabei wird insbesondere auf die Nebenwirkungen hingewiesen, die bei Überdosierung auftreten. Diese Liste enthält vor allem jene Pillen, die ein hohes Konsumrisiko darstellen und daher nicht eingenommen werden sollten. Sie dient als Warnung, falls Pillen dieser Art auf einer Party angeboten werden.

Hansruedi Voelkle / Oktober 2016

1 Siehe: http://sigmaresearch.org.uk/files/report2014b.pdf Eine deutsche Übersetzung durch die Deutsche AIDS-Hilfe gibt es unter: http://www.hivreport.de/sites/default/files/ausgaben/2014_03_HIV%20report.pdf
2 Mephedron ist eine «englische» Erscheinung und wird ausserhalb Englands kaum verwendet
3 Poppers bestehen aus Amylnitrit, Isopropylnitrit, Cyclohexylnitrit oder Mischungen daraus. Sie haben eine stark gefässerweiternde Wirkung (Vasodilatation) Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Poppers
4 Sex an hepatitis C, A guide vor healtcare providers. http://www.chelwest.nhs.uk/services/hiv-sexual-health/professionals/links/ChemSex-Hep-C-Guide.pdf 
5 Deutsche AIDS-Hilfe: HIVreport.de: Drogenkonsum bei MSM in Deutschland 
6 Tagesanzeiger vom 28.5.2014
7 Siehe : http://www.eawag.ch/fileadmin/Domain1/News/2014/0527/mm_drogen-abwasser_d.pdf
http://www.rts.ch/info/regions/neuchatel/7667119--la-crystal-meth-est-une-bombe-a-retardement-selon-olivier-gueniat.html
9 Einige Folgerungen aus der deutschen Übersetzung der Chemsex-Study.

Interview zur Situation aus ärztlicher Sicht mit Dr. med. Dominique Braun, Oberarzt an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene im UniversitätsSpital Zürich.

Haben Sie schon mal eine PrEP verschrieben?

Dr. med. Dominique Braun: Nein. Dies hat aber nicht damit zu tun, dass ich die gezielte Verschreibung von PrEP nicht als sinnvoll erachten würde, sondern dass der grösste Anteil der Patienten aus meiner Sprechstunde bereits HIV infiziert ist und deshalb eine PrEP nicht mehr in Frage kommt.

Wann ist für Sie persönlich – unabhängig von den Guidelines - eine PrEP angezeigt?

Dominique Braun: Bei Patienten, welche wiederkehrende PEP verschrieben erhalten haben und/oder mir nach einem Beratungsgespräch bezüglich Safersex-Massnahmen berichten, diese Verhaltensmassnahmen nicht einhalten zu können. Grundsätzlich denke ich, dass bei jeder Person PrEP ernsthaft evaluiert/diskutiert werden muss, welche eine PrEP wünscht. Ebenfalls sollte der Arzt PrEP mit seinen Patienten thematisieren wenn er zur Einschätzung kommt, dass PrEP bei diesem Patienten indiziert sein könnte.

Wann lehnen Sie persönlich eine PrEP eher ab?

Dominique Braun: Bei Personen von denen ich ausgehen muss, dass sie die geforderten Begleitmassnahmen zur PrEP nicht einhalten können (z.B. regelmässige HIV-Testungen, Überprüfung der Medikamentensicherheit, etc).
Was geben Sie dem Patienten mit auf den Weg, wenn Sie eine PrEP verschreiben?

Dominique Braun: Man kann sich trotz PrEP mit anderen ernsthaften Infektionen (z.B. Hepatitis C Virus) anstecken und es braucht Begleitmassnahmen, z.B. regelmässige HIV- und andere Testen auf sexuell übertragbare Krankheiten, Sicherheitslabor-Kontrollen.

Wie oft sehen Sie einen Patienten dem Sie eine PrEP verschrieben haben?

Dominique Braun: Alle drei bis sechs Monate.

Welche Probleme haben Sie mit der PrEP?

Dominique Braun: Der Preis für Truvada ist zu hoch gemessen an der Innovation bzw. den Herstellungskosten. In der Schweiz sollte PrEP von spezialisierten Ärzten verschrieben werden dürfen, aber der Preis muss massiv gesenkt werden.

Einmal auf PrEP: Bleiben die Leute dabei oder steigen sie wieder aus?

Dominique Braun: Ich denke es gibt durchaus eine Population, welche PrEP für eine beschränkte Zeit wünscht bzw. bei denen PrEP während einer beschränkten Zeit indiziert ist. Ich kann mir aber vorstellen, dass viele MSM für lange Zeit, über Jahre hinweg auf PreP bleiben, solange sie sexuell aktiv sind. Zumindest diejenigen, welche sich PrEP finanziell leisten können. Gewisse Leute könnten PrEP bei Gelegenheit einsetzen, zum Beispiel währen einem Partywochenende oder in der Ferien.

Wenn jemand was tun müsste in puncto PrEP, was wäre das?

Dominique Braun: Die Preise für Truvada müssten gesenkt werden und es braucht eine zeitnahe Studie mit dem neuen Wirkstoff Tenofovir Alafenamid Fumarat (TAF) anstelle des bisher gebräulichen Tenofovir disoproxil Fumarat (TDF). Dies mit dem Hintergrund, dass in klinischen Studien bei TAF keine negativen Effekte auf den Knochenstoffwechsel und die Nierenfunktion beobachtet werden konnte. Generell bräuchte es in der Schweiz eine klinische Studie zur PrEP, welche bevorzugt vom BAG und anderen Institutionen finanziert werden sollte. Dabei müsste die Zielgruppe in der CH für PrEP identifiziert werden sowie Akzeptanz und natürlich Wirksamkeit sowie andere Parameter untersucht werden. Eine solche nationale Studie müsste meiner Ansicht nach an den grossen HIV-Zentren in der CH durchgeführt werden, da diese die meiste Erfahrung im Bereich klinischer Studien haben und sehr gut vernetzt sind.

SRF hat in der Tagesschau und in Radioberichten und auf der Website über die Welt-Aids-Konferenz 2016 in Durban berichtet.

Lesenswert ist das auch Web-Porträt von David Haerry.

SRF.chhttp://www.srf.ch/news/schweiz/hiv-informiere-nur-dein-allernaechstes-umfeld#main-comments

In Frankreich wird die PrEP seit Anfang Jahr verschrieben und die Kosten dafür werden übernommen. In England möchte man auch gern, doch das System ist auf Schleuderkurs. Die europäische Medikamentenagentur EMA hat Truvada für den präventiven Einsatz im Juli zugelassen. In der Schweiz geschieht derweil nicht viel – ausser dass immer häufiger eine PrEP verschrieben wird.

Wir haben in der Vergangenheit bereits mehrmals über die PrEP berichtet. Soweit der Schreiber sich erinnern kann, gab es in der HIV-Geschichte kaum ein Thema, welches über so lange Zeit derart kontrovers diskutiert wurde. An der aus Studien gewonnenen Evidenz kann es nicht liegen. Möglicherweise überwiegt jedoch in Sachen PrEP die Angst oder das Gefühl «nicht das Richtige zu tun». Vor der Konferenz in Glasgow im Oktober blicken wir auf die wichtigsten Ereignisse in diesem Jahr zurück.

CROI 2016: Resistenzen führen zu einem Versagen der PrEP
Ein erster Fall von PrEP-Versagen wurde im Februar 2016 an der CROI in Boston publik. Die Fallstudie berichtet von einem Mann aus Toronto, welcher seit zwei Jahren lang eine PrEP einnahm. Als er damit anfing, war er mit einem HIV-positiven Mann zusammen, der dank seiner Therapie eine nicht nachweisbare Viruslast hatte. Er hatte aber ausserhalb seiner festen Beziehung weitere sexuelle Kontakte mit ungeschütztem Analverkehr. Trotz seiner PrEP hat sich dieser Mann mit einem mehrfach resistenten HI-Virus angesteckt.

Zwei Jahre nach Einleiten der PrEP hatte der Mann nach einer Periode mit vielen Risikokontakten plötzlich Symptome und es wurde eine akute HIV-Infektion festgestellt. Die gemessene Viruslast war aber mit 28'000 Kopien/ml eher tief – ein Hinweis, dass die PrEP zwar die Virusvermehrung unterdrückt, jedoch offenbar die Ansteckung nicht verhindern konnte. Es kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass der Patient bei der Ansteckung eine «Adhärenz-Lücke» hatte. Der Patient selbst ist sich aber sicher, die Prophylaxe immer genommen zu haben.

Das Virus des Patienten ist resistent gegen Nicht-Nukleosidanaloga (NNRTI), Nukleosidanaloga der ersten Generation (NRTI) sowie gegen Integraseinhibitoren. Die Übertragung von Resistenzen gegen Integraseinhibitoren wird nur sehr selten beobachtet. Der Patient erhielt eine Therapie aus drei Medikamentenklassen und innert drei Wochen war die Virenlast unterhalb der Nachweisgrenze. Seine Therapie wurde später vereinfacht.

Der beschriebene Fall ist nicht absolut überzeugend – dafür hätte man Blutproben vom Zeitpunkt der Ansteckung untersuchen müssen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber recht gross, dass wir hier einen der ersten dokumentierten Fälle einer Ansteckung trotz guter PrEP-Adhärenz haben. Wir können weitere solche Fälle nicht ausschliessen. Da aber heute zehntausende Menschen eine PrEP einnehmen, ist die Wahrscheinlichkeit eines wiederholten PrEP-Versagens nicht gerade gross. 1

Frankreich prescht vor – in England holperts
Wie bereits berichtet, übernimmt das französische Gesundheitssystem die PrEP seit dem 1. Januar 2016. Eigentlich sollte man in England auch soweit sein – schliesslich wurde die PROUD-Studie ebenfalls im Vereinigten Königreich durchgeführt. Es zeigen sich hier jedoch die Eigentümlichkeiten des englischen Systems.

Das egalitäre System in Frankreich lässt es nicht zu, dass eine erprobte Behandlungsmethode nicht für alle Patienten verfügbar ist. In England sieht man das offenbar anders. Hier gab es Befürchtungen, dass schwule Männer promisker würden, wenn man ihnen eine PrEP bezahlen würde. Gleichzeitig sorgte man sich um Kinder mit zystischer Fibrose, weil diese aus Kostengründen ihre Medikamente nicht mehr erhalten könnten und folglich unter Atembeschwerden leiden müssten.

Das Budget des National Health Service (NHS) ist beschränkt. Der NHS wollte deshalb die Kosten für die PrEP auf die lokalen Behörden abwälzen. Diese weigerten sich aber – mit der Begründung sie hätten kein Geld. Der National AIDS Trust (NAT) ging deswegen vor Gericht und der NHS verlor den Fall. Gegen diese Entscheidung will der NHS rekurrieren, doch der Rekurs könnte scheitern. In diesem Fall muss sich der NHS vorsehen, denn es müssten unpopuläre Entscheidungen gefällt werden. Im Juni begründete der NHS-Chef seine Haltung mit der fehlenden Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA (diese erfolgte am 22. Juli) sowie einem fehlenden Nachweis über die Kosteneffizienz durch die britische Arzneimittel-Behörde NICE.

Mit Blick auf die Behandlungskosten errechnet der NAT, dass sich der NHS durch seine Haltung täglich 2,88 Millionen Pfund zusätzliche Therapiekosten aufbürdet anstatt 4'800 Pfund pro Person und Jahr für eine PrEP auszugeben. Im Jahr 2014 hat sich in England eine Rekordzahl von 2'800 schwuler Männer mit HIV angesteckt – das sind acht pro Tag. Doch der NHS behauptet tapfer, man hätte kein Geld um den geschätzten 10'000 bis 15'000 Männern eine PrEP zu ermöglichen. Und so fliegt der Ball hin und her.

Mittlerweile übernimmt Gilead die PrEP-Kosten für die PROUD-Studienteilnehmer bis eine Lösung gefunden ist.


Erfolg in San Francisco
Neue Zahlen aus San Francisco zeigen, dass die Stadt mit ihrer Doppelstrategie der sofortigen Therapie bei Diagnose und PrEP bei Risikoverhalten gut unterwegs ist. Der am 1. September 2016 publizierte «HIV Epidemiology Annual Report 2015» zeigt eine deutliche Abnahme der Neuansteckungen in der Stadt an der US-Westküste. Seit 2012 (Einführung der PrEP in den USA) zeigt die Kurve besonders deutlich nach unten 2: Wurden 2012 noch 453 Neuansteckungen gemessen, sank die Zahl bis 2015 um fast die Hälfte (255).

Was läuft in der Schweiz?
Es gibt mehr und mehr Ärzte, die eine PrEP verschreiben – an den grossen Universitätskliniken sowie in den Checkpoints gleichermassen. Sparsame Patienten beziehen die Medikamente in Indien oder Frankreich.

Eine Zulassung durch Swissmedic steht aus. Wir haben die Firma Gilead diesbezüglich angefragt und warten nun auf die Antwort. Die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit empfiehlt den Einsatz einer PrEP in gewissen Situationen 3. Angesichts des bevorstehenden Patentverlustes von Gilead sollte in puncto Kosten eine Vereinbarung mit dem BAG möglich sein. Das Räuspern im BAG ist vernehmlich negativ und die Aids-Hilfe Schweiz schweigt vielsagend.

Für den Positivrat ist die Lage unbefriedigend. Zum ersten wird eine Post-Expositionsprophylaxe auch übernommen. Zum zweiten sollte der Zugang zu einer wirksamen Intervention für alle möglich sein und kein Privileg darstellen. Die Diskussion um Kostenübernahme muss darum auch in der Schweiz geführt werden.

Siehe dazu auch die Position der Positivrates Schweiz

 

David Haerry / September 2016

1 Knox DC et al. HIV-1 Infection with Multiclass Resistance despite Pre-exposure Prophylaxis (PrEP). Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections, Boston, abstract 169aLB, 2016
2 https://www.sfdph.org/dph/files/reports/RptsHIVAIDS/AnnualReport2015-20160831.pdf
3 Seit 29. Januar 2016, siehe www.bag.admin.ch/hiv_aids/05464/12752/

Zürich, 28. Juli 2016. Hepatitis C könnte in der Schweiz eliminiert werden. Doch dazu müsste entschlossen gehandelt werden. Leider verschläft die offizielle Schweiz diese historische Chance.

Es ist alarmierend: 80’000 Menschen leben in der Schweiz mit einer Hepatitis C. Unbehandelt kann sich eine Vernarbung der Leber oder Leberkrebs entwickeln. Viele Betroffene leiden unter ständiger Müdigkeit und anderen chronischen Krankheiten. Heute sterben mehr Menschen in der Schweiz an Hepatitis C als an HIV.

Die heilenden Therapien erhalten nur wenige: Denn über die Hälfte der Betroffenen weiss nichts von der Infektion. Zudem hat das Bundesamt für Gesundheit BAG die Medikamente aus Kostengründen rationiert. Die Rationierung wurde letztes Jahr zwar etwas gelockert. Trotzdem erhalten Betroffene erst ab einem mittleren Leberschaden die Therapien vergütet. Die Rationierung führt zudem in vielen Fällen zu kräfteaufreibenden Kämpfen mit den Krankenkassen.

Experten sind überzeugt: Die Elimination von Hepatitis C ist möglich. Die private Initiative Schweizerische Hepatitis-Strategie hat sich schon vor einem Jahr das Ziel gesetzt, virale Hepatitis bis ins Jahr 2030 zu eliminieren. Der Positivrat Schweiz ist Teil dieses Netzwerks. Die offizielle Schweiz hat im Mai 2016 die erste globale Eliminationsstrategie der Weltgesundheitsorganisation WHO verabschiedet. Trotzdem tut sich viel zu wenig.

Der Positivrat Schweiz fordert, dass die offizielle Schweiz eine Eliminationsstrategie für Hepatitis C verfolgt. Dazu braucht es Neuverhandlungen des Bundesamtes für Gesundheit BAG mit der medikamentenherstellenden Industrie über die Preise, um den Zugang zu den heilenden Medikamenten für alle zu ermöglichen. Weiter sollte die Schweiz aktiv über virale Hepatitis aufklären und die private Initiative Schweizer Hepatitis-Strategie unterstützen.

Die Schweiz hätte alle Instrumente in der Hand, um Hepatitis C bis 2030 zu eliminieren. Damit würde Betroffenen viel Leid erspart und es könnten zukünftige Gesundheitskosten vermieden werden.


Welt-Hepatitis-Tag
Der Welt-Hepatitis-Tag, der jährlich am 28. Juli begangen wird, ist einer von nur vier Weltgesundheitstagen und wurde von der WHO 2010 ins Leben gerufen. Im Mai 2016 haben die WHO-Mitgliedsländer, darunter auch die Schweiz, die erste globale Eliminationsstrategie verabschiedet. Die WHO stellt den Welt-Hepatitis-Tag 2016 unter das Motto „Elimination“. Am 28. Juli wird zudem die globale Bewegung NOhep ins Leben gerufen, um das Ziel der Elimination von viraler Hepatitis voranzutreiben.
www.worldhepatitisday.org

Kontakt:
VORSITZ Positivrat Schweiz, Herr Walter Bärtschi, Tel. +41 79 461 46 66
VIZE-VORSITZ Positivrat Schweiz, Herr David Haerry, Tel. +41 79 712 57 59

Medienmitteilung Welt-Hepatitis-Tag 2016