Aktuell

Therapiekosten sind an wissenschaftlichen Kongressen kaum ein Thema. Der Grund ist einfach: Die Ärzteschaft ist für die korrekte Diagnose und die entsprechende zweckmässige Therapie zuständig. Über die Preise verhandeln die Gesundheitsbehörden mit der Industrie, meist in Verschwiegenheit. Die europaweit grossen Schwierigkeiten puncto Kostenübernahme der neuen Hepatitis-C Therapien haben aber zu einer Sensibilisierung der Ärzte wie auch einzelner Regulierungsbehörden geführt. Andrew Hill vom Chelsea Westminster Spital in London hielt dazu ein aufsehenerregendes Referat anlässlich der Kongresseröffnung.

Der Titel „Krebs, HIV und virale Hepatitis-Therapie in Europa mit Generika: was könnte man tun?“ macht es deutlich: Andrew Hill holt weit aus. Er fordert nichts weniger als ein $90/$90/$90 – Ziel für die globale Therapie von viraler Hepatitis, HIV und Tuberkulose und begründet dieses mit massiv gesunkenen Herstellkosten. Sein Engagement erklärt sich aus der Weigerung des englischen NHS 1, Kosten von 4’800£ für eine PrEP bzw. 30'000 bis 100’000£ für die Heilung einer Hepatitis C auszugeben.

Noch 1999 hielt man ein Ausrollen der HIV-Therapie in Afrika aufgrund der Kosten als unmöglich. Aber ein Jahr später äusserte sich der Inder Yussef Hamied von der Generika-Firma Cipla an einem G8-Gipfel unverblümt: „Meine Generika-Firma kann antiretrovirale Medikamente für einen Dollar pro Tag herstellen“. Die Welt staunte, dabei hatte Thailand dasselbe schon drei Jahre früher vorgemacht. Doch erst die mächtigen indischen Generika-Hersteller machten die Produkte für Afrika interessant, weil sie auch Exportmärkte bedienen.

Andrew Hill zeigte auf, wie sehr die Produktionskosten von Medikamenten durch Skaleneffekte 2 sinken. Eine generische Tuberkulosetherapie für einkommensschwache Länder kostet schon heute bloss noch 90$ für 6 Monate.
Massiv gesunkene Kosten für Rohmaterialien für Hepatitis-C Medikamente führen zu Produktionskosten für eine 12-Wochen dauernde Therapie von deutlich unter 100$ für Sofosbuvir und Daclatasvir sowie gut 100$ für Sofosbuvir&Ledipasvir. Die Kosten für den aktiven Wirkstoff von Sofosbuvir sanken zwischen Januar 2015 und August 2016 von 9'000$ pro kg auf gut 1'100$. Daraus ergibt sich ein theoretischer Fabrikabgabepreis von 62$ für 12 Wochen generisches Sofosbuvir. In Deutschland beträgt der Preis für 12 Wochen Sofosbuvir gegenwärtig 50’426€ 3, in der Schweiz 46'914 Franken 4.

Hier ist ein kurzer Kommentar nötig. Einen wesentlichen Anteil an den massiv gesunkenen Herstellkosten haben sogenannte „Access“ Programme für ärmere Länder und freiwillige Lizenzvergaben für spezielle Märkte. Ein Beispiel unter vielen: Im von Hepatitis C schwer betroffenen Ägypten bezahlt die Regierung für eine Therapie 900$. Ähnliche Programme haben den massiven Zugang zur HIV-Therapie in Afrika erst möglich gemacht. Diese Programme sind nachhaltig, weil die sogenannt reichen Länder bereit waren, weiterhin hohe Preise zu zahlen.

Verweilen wir aber noch ein wenig bei Hepatitis C. Einzelne „reiche Länder“ haben sich nämlich tapfer geschlagen und gut verhandelt. In Spanien kosten 12 Wochen Sofosbuvir 13’000€, in Australien sogar nur ca 3’500€. Das sind keine armen Länder mit Access-Programmen - wie ist das möglich? Eigentlich ist es banal: Die Industrie will die Medikamente verkaufen. Wer sich zu einer bestimmten Menge verpflichtet, kriegt den besseren Preis. Australien hat eine Hepatitis-Strategie erarbeitet und sich das Ziel gesetzt, Hepatitis C bis 2026 zu eliminieren. Die Regierung steht voll und ganz hinter dem Programm. In den nächsten 5 Jahren sollen mehr als 120'000 Patienten geheilt werden, allein 2016 erwartet man 40'000. Dies entspricht einem jährlichen Therapiebudget von 200 Millionen AU$. Wo Visionen gefragt wären, behilft man sich in der Schweiz mit Limitationen. Man darf, man soll etwas daraus lernen.

Ein ähnliches Bild wie bei Hepatitis C zeigt sich bei Entecavir. Dieses Medikament wird für die Behandlung von Hepatitis B eingesetzt und verliert 2017 den Patentschutz. Der offizielle Preis für Entecavir beträgt in den USA 15’111$ pro Jahr und pro Patient. In Frankreich und England sind es um die 7’000$, dies bei Herstellkosten von geschätzten 36$ - rein theoretisch wäre also ein Preis von um die 90$ pro Jahr und Patient möglich.

Und bei HIV?
Viele der im Moment oft verschriebenen Medikamente verlieren in den nächsten Jahren den Patentschutz. Es wäre also theoretisch möglich, hier Kostenvorteile zu realisieren. Efavirenz und Lamivudine gibt es bereits generisch, Abacavir/Lamivudine und Lopinavir/Ritonavir folgen Ende 2016. Weitere Substanzen folgen 2017 und 2018. Nur: Efavirenz nimmt in der Schweiz aus gutem Grund kaum ein Patient mehr, dasselbe gilt für Lopinavir/Ritonavir. Solange bessere und vor allem noch besser verträgliche Substanzen nachrücken, bleiben die Kostenvorteile durch Generika wohl eher Theorie.

Wieviel Transparenz darf es denn sein?
Der Vortrag von Andrew Hill war erhellend und in Glasgow in aller Munde. Ganz so einfach wie von ihm dargestellt ist die Sache aber nicht. Wir befinden uns in einem extrem regulierten Umfeld, wo Transparenz nach aussen ein Fremdwort ist. Es ist dieses überregulierte Umfeld, welches über die Medikamentenpreise bestimmt und nicht die Herstellkosten. Die Generikahersteller sind auch Geschäftsleute. Forschung betreiben sie keine, Risiken haben sie kaum, Preise maximieren sie trotzdem.

Die forschende Pharmaindustrie pflegt und verteidigt ihr innovatives Image mit viel Energie. In vielen Ländern, auch der Schweiz, ist sie ein wichtiger Steuerzahler und ein gesuchter Arbeitgeber. Meist übersieht man, wie kleinteilig diese Industrie produziert, wie wenig echten Wettbewerb sie kennt und wie wenig kompetitiv sie eigentlich ist. Statt wie die Autoindustrie am Fliessband arbeitet die Pharma mit Konfektionsware wie eine gute Confiserie in einer grösseren Stadt. Patienten wollen auch in kleinen Ländern mit den dort zugelassenen Packungen beliefert werden. Lieferengpässe werden nicht toleriert. Das System ist auf allen Seiten enorm personalintensiv.

Wie weiter?
Die Gesundheitssysteme auch reicher Länder sind unter enormem Kostendruck. Wenn die Systeme langfristig funktionieren sollen, müssen sie robuster werden. Gute, teure Medikamente nützen niemandem, wenn sie nicht bezahlbar sind und die Patienten keinen Zugang haben. Derart komplexe Systeme im Schwung zu halten erfordert viel Knochenarbeit, noch mehr guten Willen und vor allem mehr Transparenz auf allen Seiten. Ärzteschaft und Patienten verstehen, dass nicht alles und jedes finanzierbar ist. Sie möchten aber als selbständig denkende Akteure ernstgenommen und respektiert werden. Das australische Modell für Hepatitis C hat Vorbildcharakter auch für die Schweiz.

David Haerry / November 2016

 

1 National Health Service, das nationale englische Gesundheitssystem
2 Skaleneffekt: Abhängigkeit der Produktionsmenge von der Menge der eingesetzten Produktionsfaktoren. Positive Skaleneffekte machen die Massenproduktion ökonomisch möglich.
3 Dies ist der höchste Preis für Sofosbuvir ausserhalb der USA. In der Praxis dürfte er aber tiefer liegen weil sich die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland Rabatte und Preisnachlässe aushandeln. Diese sind nicht publik.
4 Compendium.ch, überprüft am 28. November 2016

Diskussionen um die PrEP waren an der Konferenz in Glasgow Ende Oktober 2016 eines der dominierenden Themen. Zum Einen weil die Thematik in vielen europäischen Ländern diskutiert wird, zum Anderen weil gerade in England der Zugang und die Kostenübernahme der PrEP nicht gelöst sind. Für eine Überraschung sorgte Norwegen: das Gesundheitsministerium verkündete am 20. Oktober, dass die PrEP künftig durch das nationale Gesundheitssystem gratis erhältlich ist.

Norwegen ist damit nach Frankreich das zweite Land in Europa, wo eine PrEP erhältlich ist, und das erste weltweit wo die Präventionspille gratis ist. Erst nach der Konferenz wurde bekannt, dass das NHS England vor einem Berufungsgericht unterlegen ist. Die Richter befanden, dass das NHS für die Abgabe von PrEP zuständig ist. Das Urteil wurde insbesondere damit begründet, dass die Post-Expositionsprophylaxe PEP bereits übernommen wird.

Das Hickhack um die Kostenübernahme in England hat dazu geführt, dass PrEP Aktivisten eine Webseite zum online Einkauf eingerichtet haben (iwantprepnow.co.uk). Die Webseite listet 4 Quellen für ein Truvada Generikum. Die monatlichen Kosten belaufen sich zwischen 31£ und 78£ pro Monatspackung 1. Die Dean Street Clinic in Soho, London ist die Anlaufstelle für schwule Männer mit sexuell übertragbaren Krankheiten. Die zunehmende Anzahl Patienten, welche PrEP online einkaufen ermunterte die Klinik zu einer Studie 2. Man überprüfte die Medikamentenspiegel für Truvada bei 234 Kunden der online Apotheken zwischen Februar und September 2016. Es könnte ja gut möglich sein, dass die inoffizielle Quelle für den Medikamentenbezug eine nachlässige oder ungenaue Einnahme zur Folge haben könnte.

Die Männer waren im Durchschnitt 37-jährig. Ein Drittel von ihnen verkehrt in der Chemsex-Szene. 85% nahmen die PrEP täglich, nur 15% bloss bei Bedarf. Fast zwei Drittel der Selbstbezüger nutzten den Kanal www.unitedpharmacies-uk.md; nahezu alle bezogen das indische Generikum Tenvir-EM der Firma Cipla.

Die Forscher verglichen die Blutspiegel der Selbstbezüger mit jenen von Patienten, welche Truvada direkt in der Klinik bezogen – entweder als PROUD-Studienteilnehmer oder Selbstzahler. Die Medikamentenspiegel waren bei allen Teilnehmern vergleichbar und genügend hoch, um eine HIV-Infektion zu vermeiden. Während der kurzen Beobachtungszeit hatte sich auch keiner der Patienten mit HIV infiziert. Die wichtigsten Fragen hat die kleine Studie beantwortet:

  • Niemand hat gefälschte oder ungenügend wirksame Medikamente genommen
  • Alle haben genug hohe Medikamentenspiegel, um eine Infektion abzuwehren.

Nneka Nwokolo präsentierte die Daten. Sie schloss mit den Worten „Solange PrEP nicht über das NHS erhältlich ist, ist es wichtig dass alle potentiellen Nutzer einer PrEP Zugang zu einer bezahlbaren Therapie haben“. Diesem Votum schliessen wir uns gerne an.

An dieser Stelle noch ein kurzer Hinweis auf eine holländische Modellingstudie, welche Ende September im Lancet publiziert wurde 3. Das Modell untersuchte die Kosteneffizienz einer täglichen PrEP, wenn sie zu heute gültigen Preisen in den Niederlanden an schwule Männer mit hohem Infektionsrisiko verschrieben wird.

Das Modell geht davon aus, dass eine PrEP zu 80% wirkt, dass 10% der schwulen Männer mit hohem Infektionsrisiko eine PrEP nehmen, dies bei den heute geltenden Preisen. Die Kosten pro qualitätskorrigiertes Lebensjahr (quality adjusted life year QALY) würden 11'000€ betragen. Würde die PrEP statt täglich nur bei Bedarf genommen und die Pillenmenge halbiert, sinken die Kosten auf 2’000€. Das Modell betrachtet Kosten von unter 20’000€ als kosteneffizient.

Eine tägliche PrEP würde Geld sparen, wenn die Kosten um 70% sänken – das heisst, die Kosten der PrEP würden durch Ersparnisse bei verhinderten Infektionen kompensiert. Wird PrEP nur bei Bedarf eingesetzt, wären direkte Ersparnisse bereits bei 30-40% tieferen Kosten möglich.

Dieses Modell aus Holland ist realistischer als frühere Berechnungen, weil es die überraschend guten Ergebnisse der europäischen PROUD- und IPERGAY-Studien berücksichtigt. Zudem geht es davon aus, dass nur 10% der schwulen Männer mit hohem Infektionsrisiko wirklich eine PrEP verschrieben bekommen – was ebenfalls realistisch ist. Damit würden pro Jahr in den Niederlanden 4'500 schwule Männer eine PrEP nehmen, und dies für durchschnittlich 5 Jahre. Auch wenn 80% der Männer mit dem höchsten Risiko eine PrEP nehmen würden – das bedeutet 36'000 Männer unter PrEP – wären die Kosten bloss 40% höher als wenn PrEP nicht verfügbar wäre. Unter den meisten Szenarien würden immer noch Kosten gespart.

Laut der Autoren erscheinen die kurzfristigen Kosten einer PrEP zwar hoch, doch werden langfristig Therapiekosten eingespart, ganz besonders wenn die Kosten für eine PrEP sinken würden.

 

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Da in der Schweiz sowohl die offizielle Zulassung durch Swissmedic als auch eine Kostenübernahme durch die Grundversicherung keine Themen sind, ist iwantprepnow.co.uk auch für Nutzer aus der Schweiz interessant. Damit es beim Import keine Probleme gibt, muss der Bezüger ein ärztliches Rezept vorlegen und maximal drei Monatsdosen aufs Mal einführen.

Betreffend Zulassung durch Swissmedic hat sich die Patentinhaberin Gilead inzwischen geäussert. Offenbar sind der Firma die Swissmedic Prozesse zu kompliziert und zu langwierig. Das hat etwas: In der Schweiz ist für eine Erweiterung einer bestehenden Zulassung ein neuer Antrag nötig – dieser dauert länger als ein Jahr. In Europa gibt es für diese Fälle ein spezielles Verfahren, es dauert zwischen 60-90 Tagen. Trotzdem sind wir der Meinung, dass sich die Firma mehr engagieren sollte. Man darf sich nicht wundern, falls auch hierzulande die Generika diesen Markt übernehmen. Besonders gewünscht wäre auch ein Engagement der Firma für eine PrEP-Implementierungsstudie in der Schweiz. Das ist nötig, weil eine breitere Abgabe von PrEP spezielle Anforderungen an das Gesundheitssystem stellt. Von den Kliniken wissen wir, dass sie an einer solchen Studie sehr interessiert sind.

David Haerry / November 2016

 

1 Publikumspreis für das Originalpräparat in der Schweiz Fr. 899.30 (Quellle: Compendium CH, überprüft 27.11.2016)
2 Wang X, Nwokolo N (presenter), Boffito M et al. InterPrEP: internet-based pre-exposure prophylaxis (PrEP) with generic tenofovir DF/emtricitabine (TDF/FTC) in London – analysis of pharmacokinetics, safety and outcomes. International Congress on Drug Therapy in HIV Infection (HIV Glasgow), Glasgow, abstract O315, 2016.
3 Nichols BE et al. Cost-effectiveness analysis of pre-exposure prophylaxis for HIV-1 prevention in the Netherlands: a mathematical modelling study. The Lancet, early online publication, 22 September 2016, http://dx.doi.org/10.1016/S1473-3099(16)30311-5

Das bald zu Ende gehende Jahr hat uns vieles gebracht, was wir vorher kaum für möglich gehalten haben. Zu Beginn des Jahres standen wir noch unter dem Eindruck des ‚Rechtsrutsches‘ in unserem Parlament, etwas das uns damals Sorgen bereitet hat, stehen doch die konservativen Kräfte in der Politik immer im Verdacht, dass sie die Ausgaben für soziale Wohlfahrt und das Gesundheitswesen zu senken trachten, etc. Aber dass ‚die AmerikanerInnen‘ vor kurzem jemanden zum Präsidenten gewählt haben, der es weder mit der Wahrheit der Spur nach genau nimmt, noch die Frauen als etwas anderes als sich unterzuordnende Lustobjekte betrachtet, stellt unserer ‚Zuvielisation‘ keine besonders gute Note aus. News (insbesondere auf den sozialen Medien) müssen inzwischen auf den Wahrheitsgehalt überprüft werden, es gibt immer mehr ‚Journalisten‘, deren Finger nur dazu dienen, dass irgendwelche hanebüchenen News heraus gesaugt werden - brave new world.

Was hat das mit uns zu tun? Wir müssen uns in dieser Welt bewegen. Wir haben andere, seriöse Absichten. Es ist nicht immer nur ‚geil‘, die ehrenamtliche Arbeit zu erledigen, die wir leisten. Manchmal ist es mühselig. Aber es ist reale Arbeit. Yin und Yang, Ups and Downs. Sie hat kaum Glamour, aber sie bringt Befriedigung. Niemand von uns macht vorsätzlich ‚schlechte‘ Arbeit, jeder gibt sein Bestes für die Community.

 

Schwerpunkt Hepatitis C

In den letzten zwei Jahren wurde für uns bekanntlich die Arbeit im Zusammenhang mit Hepatitis C immer wichtiger. Der Zugang aller mit dem HCV infizierter Menschen zu den universellen und gut verträglichen Therapien steht auf unserer ersten Standarte. Dass es nicht möglich sein soll, Medikamente, die in der Produktion einige Rappen kosten, den Leidenden auch real zu verschreiben, ist eines zivilen ‚Gesundheitswesens‘ absolut unwürdig. Doch unsere steten Tropfen (und die der Mitstreiter) werden den Stein in absehbarer Zeit ausgehöhlt haben. Darauf wette ich! Deswegen mein Aufruf an alle, deren Leber sich im Moment noch weigert, ‚genügend‘ zu vernarben, freut Euch genau darüber und kämpft an unserer Seite. Bombardiert die Gesundheitsbehörden (BAG) und die Pharma mit Briefen, die Krankenkassen mit Kostengutsprache-Anfragen, gelangt mit offenen Briefen, Leserbriefen und Pressemitteilungen an die Medien und an uns wohlgesonnene Politiker. Das einzige, was in dieser Situation helfen kann, ist Druck von der Basis.

 

Migrations-Community nicht vergessen

Was uns ebenso wichtig ist, ist unsere Migranten-Community. Mit deren Gesundheit und dem Zugang zu Dienstleistungen liegt vieles im Argen. In den letzten Jahren hat man dieses Problem von Amtes wegen ziemlich verschlafen, erst in neuster Zeit scheint sich hier einiges zu tun. Da HIV im Gebiet südlich der Sahara nicht als Krankheit von Randgruppen abgetan werden kann, sondern vielmehr ein überwiegend weibliches Gesicht trägt, müssen sowohl die Präventions- als auch die Behandlungsstrategien dieser Tatsache Rechnung tragen. Andere wichtige Faktoren sind die kulturelle und soziale Entwurzelung und damit einhergehend eine viel höhere Mobilität vor allem innerhalb Europas und leider nicht zuletzt die erhöhten Stigmatisierungsrisiken. Wir sind mit unseren Partnern im europäischen Raum daran, hier Antworten zu suchen und so die Lebensqualität und den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für die MigrantInnen zu verbessern.

 

Was bringt die Zukunft? Die PrEP muss kommen

Der dritte, uns ebenso wichtige Punkt ist der Kampf für die PrEP. In mehreren Studien hat sich inzwischen gezeigt, dass diese die hohen Erwartungen, die in diese Präventionstechnik gesteckt werden, voll erfüllt. Die PrEP ist aber auf keinen Fall eine Strategie z.B. für alle schwulen Männer. Es gibt eine relativ klar und restriktiv eingegrenzte Gruppe von Menschen, die aus diversen Gründen Zugang zu einer PrEP erhalten sollen. Genau diese Individuen, die sozusagen auf den Schaltstellen der Infektionswege sitzen, können so ein sehr effizientes Risikomanagement betreiben, in ihrem eigenen - aber auch im Interesse der Gesundheit der Mitmenschen. Dem steht unser Krankenkassengesetz entgegen, leider werden Präventionsmassnahmen in keinem Fall durch die Grundversicherung rückvergütet. Aber angesichts der Tatsache, dass generisches Truvada auch nur ein paar Rappen kostet, sollte eine pragmatische Lösung zu finden sein - sofern ‚man‘ ernsthaft an einer solchen interessiert ist.

In diesem Sinne sollten wir uns alle für ein Gesundheitssystem einsetzen, das diesen Namen verdient. Eines, das die Gesundheit erhalten will und nicht erst eingreifen darf, wenn die Krankheit manifest ist. Oder sogar erst, wenn eine Krankheit schwerwiegend wird…

 

VValo Bärtschi / November 2016

Die HIV-Kombinationstherapie ist ein Erfolgsmodell, man kann es nicht genug betonen. Sie wirkt, wird gut vertragen, ist einfach einzunehmen und ist zu vertretbaren Kosten in Westeuropa für alle Patienten zugänglich. Die Lebenserwartung von HIV-Patienten ist fast gleich wie bei Nichtbetroffenen. Zudem ist die Therapie für alle auch ein sehr wirksames Präventionsinstrument. Kann man auf diesem hohen Niveau noch etwas verbessern?

Roy Gulick vom Weill Cornell Medical College New York hat sich dieser Frage gestellt: Das Niveau ist zwar sehr hoch, doch das Bessere ist der Feind des Guten. Sind es nun 29 oder 30 zugelassene Medikamente, in 5 oder 6 Funktionsklassen? Man hört beide Zahlen, und beide haben ihre Richtigkeit. Es gibt europaweit bloss noch eine Handvoll Patienten, welche den Fusionsinhibitor T-20 brauchen. Vor 10 Jahren war diese teure Substanz für viele Betroffene mit Mehrfachresistenzen überlebenswichtig, heute ist sie eine Randnotiz.

Gulick verglich in seinen Ausführungen die fünf international wichtigsten Therapierichtlinien (US DHHS, IAS-USA, EACS, BHIVA und WHO 1). Diese sind sich einig wie noch selten zuvor. Alle Menschen mit HIV sollen behandelt werden. Nur die WHO möchte Prioritäten setzen für die Menschen mit CD4 unter 350. Aber womöglich will auch die WHO alle behandeln. Je nach Richtlinie gibt es insgesamt zehn empfohlene Ersttherapien. Das heisst: Zwei Nukleosidanaloga plus entweder ein Nicht-Nukleosidananlog, ein Protease- oder ein Integrasehemmer.

Wirksamkeit
Um 1995 erreichten knapp 43% der Menschen mit HIV das Ziel einer nicht nachweisbaren Viruslast. In den neusten Studien sowie in der Schweizerischen HIV-Kohorte sind es über 90%. Mehrfachresistenzen sind in der Schweiz sehr selten geworden, wir haben darüber berichtet 2. Weil das nicht überall gilt, müssen neue Substanzen gegen bekannte Resistenzen wirksam sein.

Pipeline
In Entwicklung sind im Moment neue Nukleosid- sowie Nicht-Nukleosidanaloga, neue Integrase sowie Entry-Inhibitoren in den bereits bekannten Wirkstoffklassen. Zu den neuen Klassen gehören sogenannte Attachment-Inhibitoren (gegenwärtig in Phase 3, die letzte Stufe vor einer Zulassung) sowie Maturation-Inhibitoren (gegenwärtig in Phase 2, wo die Dosierung bestimmt wird).

Verträglichkeit
Für Patienten unter Dauertherapie ist die Verträglichkeit eines der wichtigsten Themen überhaupt. Haben vor 20 Jahren noch 14% der Studienteilnehmer die damals überlebenswichtige Therapie wegen Unverträglichkeit abgebrochen, sind es in den neusten Studien noch 1-3% - und diese Patienten haben im Gegensatz zu früher Alternativen. Das altbekannte Efavirenz wirkt auch in kleineren Dosen und wird damit verträglicher, für das langfristig problematische Tenofovir kommt eine Nachfolgesubstanz mit einer viel kleineren Dosierung. In der breiteren Anwendung, ausserhalb von Studien, muss sie sich allerdings noch bewähren.
Es gibt immer wieder Versuche, für die Erhaltungstherapie, nach erfolgreichem Einleiten und Unterdrücken der Viruslast, die Substanzen von drei auf zwei oder sogar nur eine zu reduzieren. Es ist gut möglich, dass Zweierkombinationen als Erhaltungstherapien Einzug in die Richtlinien bekommen, aber es ist noch zu früh. Monotherapien werden immer wieder untersucht, sind aber aus der Sicht des Schreibenden kaum realistisch.

„Convenience“ – Dosierung
Die berüchtigte Handvoll Pillen zweimal am Tag ist zum Glück Geschichte. Für die meisten Patienten gilt heute „eine Pille pro Tag“, oder zumindest „2-3 Pillen einmal am Tag“. Hier sind in naher Zukunft, das heisst in drei bis fünf Jahren, weitere Verbesserungen zu erwarten. Wir reden hier zum Beispiel von Depotformulierungen, die alle 8-12 Wochen gespritzt werden, oder alle paar Monate über kleine Implantate verabreicht werden.

Behandlungszugang
Hatten 2010 7,5 Millionen Menschen mit HIV Zugang zu einer Therapie, waren es 2015 bereits 17 Millionen. Die Fortschritte sind enorm, doch sind wir noch nicht am Ziel. Sehr problematisch und unübersichtlich ist die Lage vor allem in Osteuropa und Zentralasien (ex Sowjetunion). Bis 90% der Patienten sind hier mit Hepatitis C ko-infiziert, viele haben zudem mehrfach resistente Tuberkulose, plus sehr viel Stigma obendrauf – ein Teufelskreis mit wenig Aussicht auf rasche Besserung.

Lebenserwartung
In der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie hat sich die Lebenserwartung von Menschen mit HIV dramatisch verbessert. Gut ausgebildete Menschen mit HIV haben heute dieselbe Lebenserwartung wie die Normalbevölkerung. Weitere Verbesserungen sind zu erwarten. 

Schlussfolgerungen

  • Wirksamkeit: diese bleibt gleich gut und verbessert sich vor allem bei Multiresistenzen
  • Sicherheit, Verträglichkeit: wird sich weiter verbessern
  • Convenience: wird sich weiter verbessern
  • Wirtschaftlichkeit: wird sich weiter verbessern
  • Behandlungszugang: grosse Verbesserungen sind weiter zu erwarten (WHO Ziel: 20 Millionen Menschen unter Therapie bis 2020)
  • Lebenserwartung: wird sich weiter verbessern und könnte jene der Normalbevölkerung sogar übertreffen. Hauptgrund ist die gute Überwachung der Patienten.

David Haerry / November 2016

 

1 US DHHS 2016: www.aidsinfo.nih.gov; IAS USA 2016: JAMA 2016;316:191; EACS 2016, www.eacsociety.org; UK 2016, www.bhiva.org; WHO 2016: who.int/hiv/pub/guidelines/en/
http://neu.positivrat.ch/medizin/therapie/167-neues-aus-der-kohortenstudie-shcs-neues-aus-der-kohortenstudie-shcs-therapieresistenzen-sind-geschichte-1.html

Wir beziehen uns auf die Pressemitteilung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) vom 31.10.2016: „BAG prüft erweiterte Vergütung von Medikamenten gegen Hepatitis C“.

Das Bundesamt will offenbar die bestehenden und viel kritisierten Zugangsbeschränkungen zu Hepatitis C Therapien ausweiten. Neu sollen auch mit Hepatitis B oder HIV ko-infizierte, intravenös Drogenkonsumierende sowie erfolglos vorbehandelte Patienten Anrecht auf eine Behandlung haben. Dabei beruft sich das BAG auf einen erneuten Austausch mit medizinischen Experten.

Pressrelease