Im Januar 2008 publizierte die Eidgenössische Kommission für Aidsfragen (EKAF) das vieldiskutierte Positionspapier zum Transmissionsrisiko unter Therapie bei Menschen mit HIV. In der Zwischenzeit hat sich seitens der Forschung bereits einiges getan. Insgesamt wird der Standpunkt der EKAF bislang bestätigt.
An der Conference of Retroviruses and Opportunistic Infections (CROI) im Februar 2010 wurden zu diesem Thema zwei aufschlussreiche Studien präsentiert. In der ersten untersuchte eine Forschergruppe aus San Francisco die Hypothese, ob eine Senkung des Community Viral Load (CVL), also der Viruslast in der Gesamtbevölkerung, mit einer Reduktion der Neuinfektionen einherginge.(1) Das-Douglas und Kollegen gelang der Nachweis, dass von 2002 bis 2008 der CVL sowohl im Durchschnitt wie auch insgesamt sank, und dass dies mit einer Senkung der Zahl neuer HIV-Infektionen einherging. Laut den Autoren liegen die Ursachen in verbesserten Therapieoptionen sowie besserer Therapieabdeckung und erhöhtem HIV-Statusbewusstsein. San Francisco empfiehlt in der Folge seit April 2010 den sofortigen Einsatz der antiretroviralen Therapie (ART) nach einer HIV-Diagnose (2) - ein international allerdings umstrittener Entscheid.
ART schützt zuverlässig im festen Paar
Eine südafrikanische Studie befasste sich mit dem Übertragungsrisiko in serodiskordante, heterosexuellen Partnerschaften. Die Daten zeigen eindrücklich ein um 92% vermindertes Übertragungsrisiko, wenn der HIV-infizierte Partner therapiert wird.(3) Die angestrebte hundertprozentige Kondombenutzung schneidet im Vergleich dazu schlechter ab – das Übertragungsrisiko wird hier um ca. 85% gesenkt. Diese Studie bestätigt die Therapie klar als bisherige wirksamste Intervention in der Prävention. Diese Daten für serodiskordante Paare werden im übrigen bestätigt durch eine soeben publizierte Studie einer spanischen Forschergruppe.(4) Kürzlich publizierte zudem eine dänische Forschergruppe Daten aus einer nationalen Patientenkohorte. (5) Dabei konnten sie nachweisen, dass die Viruslast nach einer Therapiedauer von sechs Monaten häufig noch nachweisbar ist. Nach 12 Monaten unter Therapie wird die Wahrscheinlichkeit einer nachweisbaren Viruslast aber sehr gering.
Auch bei schwulen Paaren?
Wie gross aber ist das Infektionsrisiko beim Analsex homosexueller Männer? Die schlechte Datenlage bei schwulen Männern war gewichtiger Anlass für Kritik an der EKAF-Position. Eine australische Forschergruppe ging der Frage nach.(6) Die meisten publizierten Untersuchungen zum Übertragungsrisiko bei Männern die Sex mit Männern haben (MSM), stammen aus der Zeit vor Einführung der Kombinationstherapien. Erschwert wird die Untersuchung des Übertragungsrisikos bei schwulen Männern durch verschiedene Faktoren:
Die australische Gruppe untersuchte die Pro-Kontakt-Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung beim Analverkehr schwuler Männer bei verfügbarer ART. Im Rahmen der australischen „Health in Men“ – Kohortenstudie wurden 1427 HIV-negative MSM in Sydney während durchschnittlich 4 Jahren beobachtet. Die Teilnehmer wurden alle sechs Monate befragt, persönlich oder telefonisch alternierend, sowie einmal pro Jahr auf HIV getestet.
53 Männer haben sich im Beobachtungszeitraum mit HIV infiziert. Die geschätzte Pro-Kontakt-Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung betrug bei ungeschütztem, passivem Analverkehr mit Ejakulation 1.43%, ohne Ejakulation, bzw. in aktiver Stellung war das Risiko etwas weniger als halb so gross (um 0.65%). Diese Risiken erscheinen unerwartet hoch. Was uns die Studie allerdings verschweigt, ist die wichtige Information, ob die infizierten Sexualpartner unter Therapie standen oder nicht. Insgesamt geht man davon aus, dass 70% der HIV-positiven MSM in Sydney therapiert werden.
Mögliche Gründe für das unverändert hohe Übertragungsrisiko sind:
Unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen bedeuten diese Daten, dass ungeschützter Analverkehr, sowohl aktiv wie auch passiv, nach wie vor ein relativ hohes Übertragungsrisiko darstellt. Das bedeutet aber keineswegs, dass das EKAF Statement zum HIV-Transmissionsrisiko unter HAART auf den Analverkehr nicht anwendbar wäre. (7)
Die Feststellung, dass wir keine sauber dokumentierten Fälle von HIV-Übertragungen unter ART kennen, war die wichtigste Grundlage, die zum EKAF Positionspapier führte. Dies gilt nicht nur auch, sondern vor allem für MSM, denn in dieser Gruppe würden wir die ersten Fälle von Übertragungen unter ART erwarten. Zentral ist ausserdem, dass die Publikation der EKAF 2008 keine Richtlinie, sondern eine Information ist: Die EKAF betrachtet es als wichtig, dass serodiskordante Paare diese Fakten kennen und innerhalb der Partnerschaft selber informiert entscheiden können.
Falsche Panikmache
Die oben erwähnten australischen Daten wurden unter anderem durch die Newsplattform der Canadian Aids and Treatment Information Exchange herangezogen, um die Aussagen der EKAF zu diskreditieren.(7) Die Kanadier ziehen aber die falschen Schlussfolgerungen. Sie schreiben, dass sexuelle HIV-Übertragung von HIV unter MSM bei einer Viruslast von weniger als 50 Kopien/ml bereits mehrfach vorgekommen sei. Dabei wird aber auf Studien verwiesen, deren Autoren nicht validierte und umstrittene Prüfverfahren verwenden. Diese vermögen freie (d.h. infektiöse) HI-Viren und zell-assoziierte (also in Zellen integrierte) Viren nicht sicher zu unterscheiden. Die kanadischen Autoren besprechen also die australische Studie, und übertiteln diese mit Schlussfolgerungen aus anderen Untersuchungen.
Weitere grosse Studien in Vorbereitung
HIV-Übertragungen bei unterdrückter Viruslast wurden zwar vereinzelt dokumentiert, doch aus Einzelfällen dürfen keine Empfehlungen für die öffentliche Gesundheit abgeleitet werden. Was uns bis heute fehlt, ist eine grosse, randomisierte und kontrollierte Studie unter serodiskordanten heterosexuellen und schwulen Paaren. Derartige Studien sind gegenwärtig in Vorbereitung.*
David H.-U. Haerry
(1) Das-Douglas M et al, “Decreases in Community Viral Load Are Associated with a Reduction in New HIV Diagnoses in San Francisco”, 17th CROI 2010, abstract 33, www.retroconference.org.
(2) „Start HAART as soon as found to be infected - SF Endorses New Policy for Treatment of H.I.V.", New York Times, 2. April 2010.
(3) Donnell D et al. “ART and risk of heterosexual HIV-1 transmission in HIV-1 serodiscordant African couples: a multinational prospective study”, 17th CROI 2010, abstract 136.
(4) Del Romero C et al, „Combined antiretroviral treatment and heterosexual transmission of HIV-1: cross sectional and prospective cohort study“, British Medical Journal, 2010, 340, c2205, doi:10.1136/bmj.c2205.
(5) Engsig FN et al, „Risk of high-level viraemia in HIV-infected patients on successful antiretroviral treatment for more than 6 months“, HIV Medicine, DOI: 10.1111/j.1468-1293.2009.00813.x.
(6) Fengyi Jin et al., AIDS 2010, 24: 907-913
(7) www.catie.ca/catienews.nsf
Besten Dank an Prof. Pietro Vernazza für die Durchsicht des Manuskripts.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Seit das HI-Virus als AIDS-Erreger identifiziert ist, befasst sich die Wissenschaft mit dem Thema „Heilung“von HIV. Bis vor kurzem noch ein Thema für Verwegene, sorgte es an der heurigen Retrovirenkonferenz für die eigentliche Sensation. Ein konkreter Fall einer Heilung von HIV ist mittlerweile etabliert, weitere könnten folgen.
Besagter Berliner Patient war seit 1995 mit HIV infiziert. Im Jahr 2006 erhielt er eine noch schlimmere Diagnose: eine akute Leukämie wurde festgestellt. Der behandelnde Arzt hatte eine sehr gute Idee: eine Knochenmark- (Stammzellen-) transplantation von einem sehr speziellen Spender – einem Spender mit einer Delta-32 Mutation . Damit, spekulierte der Arzt, könnte vielleicht sowohl die Leukämie wie auch HIV geheilt werden. Das Immunsystem des Patienten wurde durch die Chemotherapie zur Behandlung der Leukämie zerstört, und anschliessend über die Knochenmarktransplantation wieder hergestellt.
Eine solche Strategie lässt sich nicht einfach bei anderen Patienten einsetzen. Abgesehen von den Kosten ist der Eingriff auch sehr belastend – der Berliner Patient konnte zeitweise weder gehen noch reden. Der Fall hat aber gezeigt, dass HIV möglicherweise mit einer Gentherapie geheilt werden kann. Wir haben ja bereits ein zugelassenes Medikament, welches den CCR5-Rezeptor blockiert und damit die Virusvermehrung unterdrückt.
Man stellte sich nun die Frage, ob wir bei Menschen mit HIV, welche ja die CCR5-Mutation nicht haben, gentechnisch eine solche herbeiführen könnten. Offenbar ist das möglich, wie eine sogenannte „proof of concept“ – Studie zeigt.
Sechs HIV-positive Männer unter Therapie, ca. 50-jährig, wurden in die Studie aufgenommen. Alle Teilnehmer waren seit 20-30 Jahren HIV-positiv, hatten eine nicht nachweisbare Viruslast und CD4-Zellen zwischen 200 und 500/ml.
Das Vorgehen ist aus der Gentherapie bereits bekannt: den Patienten wurde Blut entnommen, aus diesem wurden T-Helferzellen herausgefiltert, diese T-Zellen wurden im Labor aktiviert und mit sogenannten Zinkfinger-Nukleasen behandelt. Zinkfinger-Nukleasen sind Restriktionsenzyme, welche spezifische DNA-Sequenzen entfernen können. Hier wurden sie benutzt, um den CCR5-Rezeptor zu brechen. Etwas 25% der entnommenen T-Zellen wurde so behandelt. Anschliessend wurden diese Zellen eingefroren, an die Studienklinik zurückgeschickt und den Patienten per Infusion zurückgegeben. Eine Gruppe erhielt 10 Mio Zellen, eine zweite 20 Mio, eine dritte Gruppe mit 30 Mio Zellen ist erst in Behandlung.
Das Ergebnis dieser „Kur“ ist beeindruckend. Es gab kaum Verträglichkeitsprobleme. Einige Patienten hatten grippeähnliche Symptome, diese gingen aber rasch vorbei. Bei allen Teilnehmern wurden die veränderten CD4-Zellen vom Körper aufgenommen und vermehrten sich dort, ganz wie normale CD4-Zellen. Bei 5 von 6 Patienten stieg die Zahl der CD4-Zellen nachhaltig um durchschnittlich 200 Zellen an. Ebenfalls hat sich bei diesen Patienten das Verhältnis der CD4 zu den CD8-Zellen normalisiert – dieses wird normalerweise durch die HIV-Infektion gestört.
Nach 90 Tagen waren bis 7% der CD4-Zellen im periphären Blut und in der Darmschleimhaut CCR5-veränderte Zellen. Die Forscher gehen davon aus, dass dieser Anteil "HIV-resistenter" CD4-Zellen bei den betroffenen Patienten noch zunehmen wird. Wie stark dies langfristig der Fall sein wird, ist aber noch unklar.
Diese Resultate bestätigen grundsätzlich, was wir beim Berliner Patienten gesehen haben. Noch ist damit das Ziel einer heilenden HIV-Therapie noch nicht erreicht.
Es gilt jetzt als nächstes herauszufinden, ob dieses Vorgehen auch bei Patienten mit nicht unterdrückter Viruslast funktioniert, diese reduziert und sich damit ein klinischer Nutzen erzielen lässt. Dieser Versuch wird sowohl mit unbehandelten Patienten wie auch mit „salvage“ Patienten (Leute mit multiresistenten Viren) durchgeführt.
Man hofft also, durch dieses Vorgehen ein Reservoir von HIV-resistenten CD4-Zellen aufbauen zu können, derweil die nicht resistenten Zellen durch das HI-Virus ausradiert würden.
Was ist mit dem zweiten Rezeptor, CXCR4?
HIV kann einen zweiten Rezeptor benutzen, um in die CD4-Zellen einzudringen. Dieser nennt sich CXCR4. Übertragene Viren sind fast immer CCR5-tropisch; bei fortschreitender Schwächung des Immunsystems beobachtet man CXCR4 häufiger.
Die Zinkfinger-Nuklease Technologie wurde auch hier angewandt. Im Tiermodell funktioniert auch das – Resultate mit Patienten müssen wir aber abwarten. In der Praxis könnte die die Blockierung des CXCR4-Rezeptors als schwieriger erweisen. Das Immunsystem der betroffenen Patienten ist weniger fit als bei CCR5-tropischen Menschen.
Wäre dann die Heilung Realität?
Vielleicht. Der Berliner-Patient wurde 3 Jahre nach seiner Behandlung offiziell als von HIV „geheilt“ erklärt. Ebenso möglich ist aber, dass die Gentherapie ab und zu eingesetzt die heutige antiretrovirale Behandlung ablösen könnte. Falls aber die Gentherapie wirklich die Ausmerzung (Eradikation) von HIV ermöglicht, dann wäre dies der bisher grösste Erfolg der Gentherapie in der Medizin. Viele ExpertInnen sind heute überzeugt, dass dieses Ziel erreicht werden kann. Wann dies der Fall sein wird, und ob dannzumal alle Menschen mit HIV gleichermassen profitieren können, ist gegenwärtig nicht abzuschätzen. Ein Zeithorizont von 10 Jahren für erste "serienmässige" Heilungen könnte aber realistisch sein.
David H.U. Haerry
Lalezari J et al. Successful and persistent engraftment of ZFN-M-R5-D autologous CD4 T Cells (SB-728-T) in aviremic HIV-infected subjects on HAART. 18th Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections, abstract 46, Boston, 2011.
Wilen C et al. Creating an HIV-resistant immune system: using CXCR4 ZFN to edit the human genome. 18th Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections, abstract 47, Boston, 2011.
POSITIV 1/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
Ein prominentes Thema an der Retrovirenkonferenz in Boston 2011 waren zusätzliche Daten zur Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP).. Neue Daten gab es insbesondere zu Therapietreue, Nebenwirkungen und zum Resistenzbildungsrisiko. Diskutiert wurde auch die Frage einer Zulassung von HIV-Medikamenten für Präventionszwecke durch die us-amerikanische Zulassungsbehörde (FDA).
Therapietreue
Die neuen Daten zur Adhärenz zeigen, dass schwule Männer mit dem höchsten Infektionsrisiko (häufiger ungeschützter Analverkehr) auch die beste Einnahmetreue hatten. Das ist einerseits erfreulich, andererseits vielleicht ein Hinweis, wo PrEP als Intervention erfolgreich sein könnte: bei den sehr gut informierten Leuten in San Francisco und Boston mit dem höchsten Risiko.
An der CROI wurden Medikamentenspiegeldaten publiziert. Von 179 untersuchten Leuten hatten nur 50% Tenofovir und 62% FTC in den Blutzellen . Diese Daten stehen im Widerspruch zur Selbsteinschätzung der Patienten zur eigenen Therapietreue – offenbar habe die meisten Mühe zuzugeben dass sie die Medikamente nicht korrekt einnehmen. Die ingesamt teilweise schlechte Adhärenz muss uns zu denken geben. Im Kontext einer klinischen Studie werden die Teilnehmer optimal betreut und beraten – ein Aufwand, der im Alltag nicht möglich sein wird.
Nebenwirkungen
Eine weitere Studie befasste sich mit der Knochenmarkdichte. Truvada kann diese unter Dauertherapie negativ beeinflussen. Es zeigte sich nun, dass die iPrex Studienteilnehmer schon beim Eintritt in die Studie häufig eine erniedrigte Knochenmarkdichte hatten (möglicherweise eine Folge von Poppers und Amphetaminen). Während der Studie sank die Knochenmarkdichte weiter ab, Osteoporose wurde aber nicht festgestellt. Aber die Beobachtungszeit (1 ½ - 2 Jahre) war kurz, und die Adhärenz nicht immer gut. Gut möglich, dass bei längerer Anwendung die Häufigkeit von Knochenbrüchen zunehmen würde.
Resistenzen
Zur Bildung von Resistenzen: es zeigte sich, erfreulicherweise, dass die Probanden welche sich mit HIV infizierten, keine Resistenzen aufwiesen – Truvada als Therapie also nach wie vor einsetzbar ist.
Zulassung von HIV-Medikamenten für die Prävention?
Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA wird sich in den kommenden Monaten mit der Zulassung von Truvada für die PrEP befassen. Das FDA wird also entscheiden müssen, bei welcher Bevölkerungsgruppe die Risiko-Nutzenbilanz positiv ist. Das FDA wird sich aber nicht mit der Preisfrage oder der Finanzierung von PrEP beschäftigen. In der Schweiz würde bei heutigem Preisniveau eine Dauertherapie mit Truvada 1'000 Franken pro Monat kosten – für die HIV-Prävention. Es ist davon auszugehen, dass dafür keine Krankenkasse aufkommen wird.
Mir war die PrEP Euphorie an der CROI etwas zu gross. Wir müssen uns sehr gut überlegen, wie wir diese Präventionsstrategie in der Praxis implementieren, und wie die Leute, die das Medikament zu Präventionszwecken nehmen beraten und betreut werden müssen. Es ist ja gut zu wissen, dass eine solche Intervention funktionieren kann. Ich hätte aber lieber ein Medikament, das man nicht dauernd einnehmen muss, sondern bloss davor oder danach, sowie eines, welches in der Therapie von HIV-positiven Patienten eine weniger wichtige Rolle spielt als Truvada. Vielleicht wären die schwulen Hochrisikomänner ja bereit, sowas aus dem Taschengeld selber zu zahlen – das Viagra zahlen sie schliesslich auch selber.
David H.U. Haerry
Truvada ist eine Kombipille aus Tenofovir und FTC
POSITIV 1/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
HIV nimmt insgesamt in der Schweiz seit längerem ab. Aber in bestimmten Gruppen ist die Infektion immer noch stark verbreitet. Warum gibt es solche Unterschiede, und wie kann man dieser Art von Epidemie wirkungsvoll begegnen?
Wenn man sich die HIV-Epidemie der letzten 20 Jahre in der Schweiz anschaut, dann bekommt man auf den ersten Blick ein klares Bild: Nach dem Ausbruch von HIV in der ersten Hälfte der 1980er Jahre stieg die Zahl der HIV-Diagnosen steil an bis auf die beachtliche Zahl von über 3'000 neuen Diagnosen um 1990. Es folgten 10 Jahre in denen die Neudiagnosen wieder stark und stetig sanken, bis zum Tiefpunkt um 2001 von weniger als 600. Es folgte ein leichter Anstieg und eine Plafonierung bei gut 700 Neudiagnosen jährlich, bis um 2008 die Gesamtzahl wieder zu sinken begann. Heute liegt sie bereits wieder beim Niveau von 2001.
Um 600 Neudiagnosen pro Jahr in der Schweiz - das ist eigentlich nicht viel. Ist HIV in der Schweiz also zu einer seltenen Infektionskrankheit geworden. Ja und Nein!
Konzentrierte Epidemien
HIV ist in der heterosexuellen Bevölkerung tatsächlich zu einer seltenen Infektion geworden ist. Deutlich weniger als ein halbes Promille der Heterosexuellen in der Schweiz, sind von HIV betroffen. Man sagt, die "Prävalenz" von HIV betrage in dieser Gruppe <0,5 Promille. Aber in anderen Gruppen ist das nicht so.
Bei schwulen Männern beträgt die Prävalenz um 10%, je nach Region (v.a. in den städtischen Zentren) ist sie noch deutlich höher. Und auch bei Menschen aus Ländern mit hoher HIV-Prävalenz (vor allem Subsahara-Afrika) liegt die HIV-Prävalenz weit über dem Wert der Schweizer Heterosexuellen, teilweise über dem Wert bei schwulen Männern. Man nennt diese Art von Epidemie, die sich nur in bestimmten Gruppen ausbreitet, "konzentriert". Warum gibt es eigentlich konzentrierte Epidemien? Und welche wirkungsvollen und sinnvollen Massnahmen gibt es zur Verbesserung dieser Situation?
Die Epidemie macht, was sie will
HIV wird in der Schweiz fast nur noch auf sexuellem Weg übertragen. Aber die Wahrscheinlichkeit, einem Menschen mit HIV zu begegnen, ist in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen extrem ungleich verteilt! In der Schweiz leben ungefähr 5 Mio. erwachsene, also sexuell aktive Menschen. Man schätzt (weiss das aber nicht genau), dass davon etwa 3% schwule Männer sind - also um 150'000 Personen. Es gibt also etwa 35 mal mehr heterosexuelle als homosexuelle Menschen. Das ist für den Verlauf einer Epidemie enorm wichtig. Je kleiner eine Gruppe ist und je höher in ihr die Prävalenz einer sexuell übertragbaren Infektion (STI), desto höher ist das Risiko, auf einen Menschen mit dieser STI, z.B. mit HIV, zu treffen. Denn es gibt in dieser Gruppe nicht nur viel mehr HIV-positive Menschen, die Auswahl an Sexualpartnern ist auch kleiner. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit HIV und häufiger wechselnden Partnern sich in dieser Gruppe begegnen, ist dadurch viel grösser. Schwule Männer in einem städtischen Zentrum in der Schweiz müssen davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ihr neuer Partner HIV-positiv ist, etwa 200 mal grösser ist, als unter heterosexuellen Personen. Dieser Unterschied wirkt sich direkt auf den Verlauf einer Epidemie in einer bestimmten Gruppe aus. Und je weiter eine STI verbreitet ist, umso stärker wirkt diese Dynamik.
Unter solchen Umständen nützt es entsprechend weniger, wenn sich Menschen in einer stark betroffenen Gruppe durchschnittlich viel besser vor HIV schützen. Oder anders gesagt: das durchschnittliche Schutzniveau (das in der Gruppe homosexueller Männer viel höher ist als bei Heterosexuellen gleichen Alters) hat viel weniger Auswirkungen auf den Verlauf einer Epidemie als die Tatsache, dass so viele Mitglieder einer sozialen Gruppe bereits HIV-positiv sind!
Das ist doppelt tragisch für Menschen in diesen stark von HIV betroffenen Gruppen. Nicht nur nützt es nicht so viel, dass sie sich durchschnittlich gut schützen. Sie werden von anderen gesellschaftlichen Gruppen auch noch stigmatisiert dafür, dass die Epidemie unter ihnen tut was sie will.
Was kann man machen?
Safer Sex ist sehr wichtig! Und die HIV-Therapie ist sehr wichtig! Beide Faktoren haben starke Auswirkungen auf den Verlauf der HIV-Epidemie, denn beide Faktoren verhindern, wenn sie voll wirksam sind, HIV-Übertragungen zuverlässig. Den Effekt der HIV-Therapei sieht man übrigens auch in der Schweizer Epidemie deutlich: mit dem Einsatz antiretroviraler Wirkstoffe Ende der 1980er Jahre begann der Rückgang der Epidemie.
Dennoch schützen sich nie alle Menschen perfekt und andauernd, und auch eine HIV-Therapie nehmen noch lange nicht alle. Wir leben in Freiheit und es ist nicht möglich, und soll auch nicht sein, dass man einzelne Menschen zu Safer Sex oder einer HIV-Therapie zwingen kann. Wir wissen übrigens sehr gut, dass solche Zwangsmasnahmen gerade den gegenteiligen Effekt haben. Vulnerable Menschen haben in einem repressiven System viel mehr Angst - sie verstecken sich deshalb und sind für das Präventions- und Medizinsystem nicht mehr erreichbar. Es ist also in jeder Hinsicht richtig, auf Freiwilligkeit zu setzen.
Damit Freiwilligkeit funktioniert, müssen Menschen erstens ihre Schutzoptionen möglichst gut kennen, und sie müssen sie persönlich anwenden können und wollen. Diese Kompetenzen haben AHS und BAG mit ihren Kampagnen und ihrem Beratungssystem in den letzten 20 Jahren erfolgreich gefördert und sie tun es weiterhin.
Wichtig ist ausserdem, dass Menschen ihre HIV-Risiken möglichst gut kennen. Dazu gehört die Sensibilität für die Tatsache, dass man möglicherweise in einer sozialen Gruppe lebt, die weit überdurchschnittlich von HIV betroffen ist. Dieses Bewusstsein ist nicht nur für das Schutzverhalten wichtig, es ist auch der Solidarität in einer Gruppe zuträglich. Besonders unter Menschen aus der Region Subsahara-Afrika ist die Solidarität mit Betroffenen immer noch eine Herausforderung - ebenso wie das Bewusstsein, dass sehr viele Menschen der eigenen Gruppe von HIV betroffen sind. Dieses Bild in den Köpfen zu verändern könnte Gutes bewirken. Und zwar sowohl für HIV-Negative (die dadurch ihre Risiken besser erkennen würden), als auch für HIV-Positive (die durch die grössere Sensibilität für das Thema in ihrer Gruppe mehr Solidarität erwarten könnten).
Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
POSITIV 1/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
Prof. Dr. Bernhard Hirschel ist Infektiologe und Leiter des HIV/Aids-Zentrums am Genfer Universitätsspital, das er mit aufgebaut hat. Er betreut dort Menschen mit HIV in Genf seit Beginn der Epidemie und er ist einer der Gründer der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS). Hirschel trat im Winter 2007 als erster Schweizer HIV-Spezialist an die Öffentlichkeit mit der Information, dass Menschen mit HIV unter Therapie und voll unterdrückter Virenlast nicht mehr sexuell infektiös seien. Dies wurde von ihm und den Koautoren der Eidgenössichen Kommission für Aidsfragen (EKAF) dann im Januar 2008 in der Schweizerischen Ärztezeitung auch publiziert. Hirschel hat Hunderte von Forschungsbeiträgen in den international wichtigsten Fachzeitschriften publiziert, er ist Mitglied diverser Forschungsorganisationen und Editorial Boards. Er ist verheiratet, Vater von 3 Kindern und lebt in Genf.
Lieber Herr Hirschel, Sie haben anfang der Achziger Jahre die ersten in der Schweiz aufgetretenen Fälle von Aids beschrieben.
Unser erster Fall war eher ungewöhnlich. Es handelte sich um eine 47-jährige Hausfrau mit opportunistischen Infektionen. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nur vermuten, dass es sich um dieselbe Krankheit handelte, die vorher bereits in den USA beschrieben worden war. Es fehlte ja ein Test. Ich gab unsere Informationen dann an das CDC (1) weiter und bekam die Auskunft, dass dies erst der fünfte vermutete AIDS-Fall bei einer Frau sei. Bis heute wissen wir nicht, wie sich diese Frau infiziert hat, denn ihr damaliger Ehemann lebt meines Wissens noch und ist HIV-negativ. Das ist jetzt fast dreissig Jahre her.
Wie kamen Sie dazu, sich mit diesen Fällen zu beschäftigen?
Ich war Infektiologe hier am Genfer Unispital und forschte am Bakterium Meningococcus, bevor die ersten Aidsfälle auftraten. Als Infektiologe hatte ich direkt mit diesen Fällen zu tun. Sie haben mich stark interessiert und ich habe mich seither damit beschäftigt.
Dann ging alles sehr schnell?
Aus heutiger Sicht schon, damals waren es lange und dramatische Jahre. Im Herbst 1981 wurden die ersten Fälle beschrieben und es dauerte zwei Jahre, bis wir Klarheit bekamen über den Krankheitserreger. Luc Montagnier hatte eine erste Beschreibung von "LAV" (2) geliefert und war damit auf der richtigen Spur. Dann entstand eine Kontroverse zwischen ihm und dem amerikanischen Forscher Robert Gallo, der ein ähnliches Virus beschrieben hatte. Einige Zeit war unklar, ob man es überhaupt mit demselben Erreger zu tun hat.
Erst 1984 stand ein Antikörpertest zur Verfügung, der zu Beginn noch nicht zuverlässig war und viele falsch positive Resultate ergab.
War an HIV vor allem die hohe Mortalität ungewöhnlich?
Die Sterberate unter HIV-Infizierten kannten wir lange Zeit nicht, denn wir wussten ja nicht, wie verbreitet das Virus war und wieviele Menschen daran starben. Das Besondere an HIV war aber vor allem die ungewöhnlich lange Inkubationszeit (3). So realisierten wir erst nach und nach, dass Aids bei gegen 80% der mit HIV-Infizierten innert zwanzig Jahren ausbricht und zum Tod führt. Das wirkliche Ausmass der Epidemie wurde erst mit dem Antikörpertest deutlich.
Welche Gruppen waren zu Beginn in Genf betroffen?
Besonders markant breitete sich HIV bei den Heroinabhängigen aus. Und in dieser Gruppe hat das Gesundheitssystem zu Beginn auch am eklatantesten versagt. Es war bald klar, dass der Spritzentausch das Problem war, aber wir verbrachten in Genf lange Zeit mit dem Methadonstreit. Mit etwas entschlosserenem Handeln hätten wir in dieser Gruppe etliche Leben retten können. Hier war ja, nachdem man sich endlich zur Abgabe von Spritzen, Methadon und Heroin entschlossen hatte, auch der der grösste Präventionserfolg zu verbuchen. In keiner anderen Gruppe schlug eine einzelne Massnahme so erfolgreich durch. Heute ist HIV in dieser Gruppe nur noch ein marginales Problem.
Dann kam die Therapie. Wie war diese Revolution eigentlich möglich?
Das ist einer der erstaunlichsten Erfolge in der Medizingeschichte. Ich denke, erstens bestand allenthalben Einigkeit über die Dringlichkeit des Problems. Zweitens verfügte die Forschung bereits über Werkzeuge, mit denen das Virus angegriffen werden konnte. Die reverse Transkriptase (4) war 1970 von Howard Teamin und David Baltimore entdeckt worden und bot den ersten direkten Angriffspunkt. Drittens muss man sich die beispiellose Mobilisierung von Betroffenengruppen vergegenwärtigen, allen voran die schwulen Männer. Sie trug in hohem Mass dazu bei, dass sich das Bewusstsein und die Angst bezüglich HIV/Aids in der Allgemeinbevölkerung ausbreitete. Und damit wurden erhebliche wirtschaftliche Ressourcen mobilisiert.
Auch in der Pharmaindustrie?
Ganz besonders dort. Denn HIV hatte sich ja offenkundig weltweit ausgebreitet und so war mit therapeutischen Wirkstoffen auch Geld zu verdienen. Die entsprechende pharmafinanzierte Forschung hat sich nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen in kurzer Zeit schnell und stark entwickelt. Heute befinden wir uns nun eher wieder in einem Prozess der Strukturbereinigung. Mittelfristig werden wohl nicht alle Wirkstoffe rentabel bleiben.
Natürlich spielte es für die hohe Dynamik dieses Prozesses eine wichtige Rolle, dass man mit den antiretroviralen Wirkstoffen so erfolgreich war und so vielen Menschen helfen konnte.
Beim ersten HIV-Medikament, AZT, war man sich des Erfolgs aber noch nicht sicher?
Azidothymidin war ein Spezialfall, denn der Wirkstoff existierte ja schon seit den 60er Jahren als Krebstherapie, war dort aber ein Misserfolg. Man war in der Krebsforschung lange Zeit der Auffassung, dass die meisten Krebsformen durch Retroviren verursacht würden und hatte AZT in diesem Kontext entwickelt. Gegen HIV wirkte dieser Hemmer der reversen Transkriptase deutlich besser. Aber leider waren die Nebenwirkungen von AZT erheblich und das Virus wurde in der Regel schnell resistent gegen den Wirkstoff. Er bot also nur einen kurzen therapeutischen Aufschub.
Wie brachte man das Resistenzproblem unter Kontrolle?
Erst nachdem verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung standen gelang mit den Kombinationstherapien der therapeutische Durchbruch in den 90er Jahren. HIV kann seither bei infizierten Menschen langfristig unter Kontrolle gebracht werden. Durch die praktisch vollständige und dauernde Unterdrückung der viralen Reproduktion im infizierten Organismus wurde auch die nachhaltige Erholung des Immunsystems möglich. Und nur so gelang es, dass Menschen mit HIV dank der antiretroviralen Therapie heute eine nahezu normales Leben führen können.
Und bei voll unterdrückter Virenlast sind Menschen mit HIV praktisch nicht mehr infektiös?
Genau, diesen Effekt kennen wir schon relativ lange. Es dauerte aber seine Zeit, bis wir ihn für die Prävention mobilisieren konnten. Man hatte lange Zeit die nicht sehr rationale Befürchtung, dass man mit dieser Information die klassische kondombasierte Prävention schädigen würde.
Hat sich nicht für die HIV-Prävention eine Schere geöffnet? Einerseits möchte man heute mit diesen guten Nachrichten Menschen mit HIV für den Test und die Therapie mobilisieren. Andererseits braucht doch auch die Prävention eine Motivation?
Die Aidspräventions-"Industrie" hat vermutlich bisher zu viel Energie auf das Warnen und zu wenig auf die Erfolgsgeschichten verwendet. Da ist vielleicht, wie bei jeder Interessenorganisation, auch ein Stück Eigennutz mit im Spiel. Man möchte weiterhin auf die alten Präventionsbotschaften setzen können und mit Mitleid Fundraising betreiben. Und dazu muss man natürlich HIV nachhaltig dramatisieren. Damit werden aber die Ängste zementiert, sowohl bei Betroffenen als auch in der Öffentlichkeit und man verzögert damit den Prozess einer Normalisierung.
Wie kann man das ändern?
Ich finde es zentral, dass man aufhört, Prävention und Therapie als Gegensätze zu behandeln, zum Beispiel indem man mit dem Hinweis auf die "gefährliche" Therapie für die Prävention wirbt. Die antiretrovirale Therapie liegt sowohl im PatientInneninteresse als auch im Interesse der Prävention. Wir müssen die beiden Dinge zusammen denken. Neue Ideen zur Prävention werden also dringend gebraucht.
Haben Sie eigentlich 2007, bzw. 2008 die teilweise recht fulminanten internationalen Reaktionen auf das EKAF-Statement erwartet?
Die Heftigkeit hat mich in einigen Fällen schon überrascht. Andererseits waren die EKAF-Mitglieder diesbezüglich auch nicht naiv. Wir wussten, dass wir diese Botschaft pointiert formulieren müssen, damit sie überhaupt ankommt. Insofern haben wir auch mit Reaktionen gerechnet.
Ich möchte aber auch festhalten, dass die Kernaussagen des EKAF-Statement – nämlich der Präventionseffekt der HIV-Therapie – heute kaum noch Widerspruch erzeugt. Die heute laufenden Diskussionen drehen sich im wesentlichen um die Frage, wie weitreichend dieser Effekt ist und wie er für die HIV-Prävention in Dienst genommen werden kann.
Damit der präventive Effekt einer HIV-Therapie wirksam werden kann, muss ein Mensch mit HIV erst wissen, dass er oder sie positiv ist – und dann noch eine Therapie beginnen wollen. Wir wissen aber, dass noch immer viele Menschen Angst sowohl vor dem Test, als auch vor der HIV-Therapie haben.
Jeder von uns hat Angst vor einer ernsten medizinischen Diagnose und ihren Folgen. Es ist eine natürliche Reaktion, dass man schlechte Nachrichten nicht hören will. Und leider ist es so, dass Menschen mit HIV, teilweise zu Recht, grosse Vorbehalte haben, mit ihrer Infektion und unter Therapie an die Öffentlichkeit zu treten, um so damit beizutragen, diese Ängste abzubauen. Das ist verständlich, denn die Infektion und die Therapie belasten das Leben ohnehin und Betroffene wünschen sich in der Regel nichts mehr, als ihr Leben in Ruhe weiterleben zu können, sei es allein, im Beruf, in einer Partnerschaft oder in einer Familie.
Andererseits hat man seitens der Präventionsagenturen gerade diese Ängste auch immer wieder geschürt um nur ja nicht HIV zu verharmlosen und damit etwa Safer Sex zu diskreditieren. Davon sollte man jetzt Abschied nehmen.
Können wir denn überhaupt damit rechnen, dass wir weltweit genügend Menschen mit HIV-Medikamenten versorgen können, damit ein entsprechender Effekt auf die Epidemien wirksam würde?
Das weiss ich nicht. Man hat es auch noch nicht ausprobiert und man müsste einen gezielten, regional begrenzten Versuch dazu unternehmen. Was wir heute vermuten, ist, dass sich der breite Einsatz der Therapie in den "alten" Epidemien, also zum Beispiel in westlichen Grossstadtzentren wie San Francisco oder Vancouver, schon jetzt auf die Zahl der Neuinfektionen auswirkt – dass also weniger Menschen infiziert werden, wo die Therapie weiter verbreitet ist.
Abgesehen von der Frage nach dem Effekt der Therapie auf die HIV-Epidemien stellen sich aber auch noch andere Fragen. Auch wenn wir voraussetzen, dass die HIV-Therapie die Epidemien zu stoppen vermöchte, wissen wir im Augenblick nicht, wie ein derartig aufwändiges und teures globales Projekt überhaupt durchgeführt und bezahlt werden könnte. HIV ist nicht das einzige drängende Problem in den stark betroffenen Ländern. Es steht unter anderem in Konkurrenz mit weiteren wichtigen medizinischen Problemen, zum Beispiel Malaria. Ausserdem kämpfen diese Länder nicht selten mit grundlegenden Herausforderungen in Bezug auf Ernährung und Wasserversorgung – und erst recht in Bezug auf ein funktionierendes Gesundheitssystem. Wir können also nicht einfach von hier aus entscheiden, dass jetzt zuerst das Problem HIV gelöst wird und glauben, dass es damit getan ist.
Das Thema "Test and Treat" (4) ist heute sehr aktuell. Also der Ansatz, möglichst viele Menschen zu testen um sie schnell zur Therapie zu bringen. Vor kurzem hat die Fachkommission für Klinik und Therapie (FKT) ihre Empfehlungen zum Testen im Rahmen der normalen Gesundheitsversorgung revidiert. Die FKT schlägt vor, dass der Test ähnlich wie andere diagnostische Tests routinemässig gemacht werden sollte und dass er nicht mehr notwendig mit einer Beratung verknüpft sein muss. Ausserdem soll der Test unter bestimmten Bedingungen auch ohne Informierung von PatientInnen gemacht werden können.
Auch ich bin der Meinung, dass der HIV-Test stärker in die Routineuntersuchungen integriert werden sollte. Erstens ist der Test heute äusserst zuverlässig und zweitens relativ billig. Wenn es gelingt, mehr Menschen rechtzeitig zur Therapie zu bringen, dann wird sich daraus unter dem Strich eine Kostenersparnis ergeben, weil diese Menschen ein gesünderes und produktiveres Leben haben werden. Damit kann insgesamt etwas erreicht werden, sowohl für Menschen mit HIV, als auch für die öffentliche Gesundheit. Natürlich sind Forderungen nach einem Informed Consent (5) einerseits und einem wirkungsvollen HIV-Screening andererseits gegeneinander abzuwägen.
Eine der noch immer bestehenden Herausforderungen gegenüber einer allgemeinen "Normalisierung" von HIV ist das Problem des HIV-Stigma und die darauf gründende soziale, rechtliche und wirtschaftliche Diskriminierung von Menschen mit HIV. Bis jetzt war die Testpolitik davon ausgegangen, dass jede Person selber entscheiden können muss, ob sie einen HIV-Test machen will oder nicht. Sollten wir wirklich das Prinzip des auf Freiwilligkeit basierenden Beratens und Testens (6) so schnell in der medizinischen Routine aufgehen lassen?
Ich finde, dass man das Problem nicht auf diese Weise zuspitzen sollte. Die EKAF verband mit ihrer Stellungnahme 2008 ausdrücklich die Hoffnung, dass mit der systematischen Informierung über die Möglichkeiten und den Erfolg der Therapie die Ängste gegenüber HIV abgebaut werden - und damit die Quellen von Stigma und Diskriminierung. Im Bereich der Rechtsprechung sind wir mit dieser Strategie erfolgreich. Es kommt immer öfter zu Verfahrenseinstellungen, wenn ein Indexpatient nachweisen kann, dass von ihm kein Infektionsrisiko ausgeht. Ich denke auch, dass wir bezüglich Stigma und Diskriminierung in den letzten zwanzig Jahren weitergekommen sind und dass dieser Prozess weitergehen wird. Allerdings gebe ich Ihnen in einem Punkt recht: gerade jene PatientInnen, welche attraktive Rollenmodelle abgeben könnten für diese Entwicklung, wollen sich heute eher weniger als früher dafür einsetzen. Ich finde, dass es aber vor allem eine Aufgabe der Präventionsorgansationen ist, sich konsequent für diesen Prozess der Normalisierung einzusetzen.
Lieber Herr Hirschel, ich danke Ihnen für das interessante Gespräch.
Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Center for Disease Control, die us-amerikanische Behörde für die Überwachung infektiöser Krankheiten.
(2) LAV: "Lymphadenopathy Associated Virus", also das Virus, das eine Erkrankung der Lymphknoten (die charakteristische Schwellung) verursacht. Luc Montagnier erhielt für die Entdeckung von HIV 2008 den Nobelpreis in Medizin.
(3) Inkubationszeit: der Zeitraum von der Übertragung eines Krankheitserregers bis zum Ausbruch der Krankheit.
(4) Reverse Transkriptase (RT): ein biologischer Baustein der beim Zusammenbau des HIV-Ergutes eine zentrale Funktion hat. HIV und andere Viren bauen mit Hilfe von RT ihr Erbmaterial so um, dass es in einen Wirtsorganismus integriert werden kann. Teamin und Baltimore erhielten für die Entdeckung der RT 1976 den Nobelpreis in Medizin.
(5) Informierte Entscheidung: der Patient entscheidet, nach vollständiger Information seitens des Arztes, selbst, ob er einen HIV-Test machen will oder nicht.
(6) VCT: Voluntary Counselling and Testing ist eines der Grundprinzipien der HIV-Testpolitik.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
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