Zürich, den 23. September 2013. Das Volk sagt Ja zum neuen Epidemiengesetz. Damit wird eine langjährige Diskriminierung von Menschen mit HIV im Strafrecht beseitigt. Mit dem neuen Epidemiengesetz ist die Verbreitung einer gefährlichen menschlichen Krankheit nur strafbar wenn der Täter aus gemeiner Gesinnung handelte.
Die letzten Jahre ergingen Dutzende von Strafurteilen gegen Menschen mit HIV wenn sie ungeschützten Sex praktizierten. Dies selbst dann, wenn ihre Sexualpartner vorgängig über die HIV-Infektion informiert waren. Mit der Annahme des neuen Epidemiengesetzes wird diese Ungerechtigkeit beseitigt. Wer seine Sexualpartnerin oder seinen Sexualpartner über die HIV-Infektion informiert, muss künftig nicht mehr befürchten, für Verbreitung oder versuchte Verbreitung einer gefährlichen menschlichen Krankheit bestraft zu werden. Dann werden nur noch Personen bestraft, die aus gemeiner Gesinnung handelten. Internationale Studien belegen, dass viele aus Angst vor einer Strafverfolgung sich nicht auf HIV testen lassen oder ihre Sexualpartner nicht über die HIV-Infektion informieren. Der Positivrat ist erleichtert über den Ausgang der Abstimmung und ist froh, dass wir im Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV einen Schritt vorwärts gekommen sind.
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Der Positivrat ist ein Fachgremium, welches sich für die Interessen der Menschen mit HIV einsetzt. Er besteht aus Menschen mit HIV, ihren Angehörigen oder Fachpersonen, die sich mit ihnen solidarisieren. Seine Mitglieder verfügen über berufliches oder persönliches Wissen und Erfahrungen in medizinischen, pflegerischen, psychosozialen, politischen oder kommunikativen Belangen. Der Positivrat ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich.
Wieviele HIV-Patienten nehmen nicht nur die HIV-Medikamente, sondern auch andere Präparate ein? Kann das zu Wechselwirkungen führen? Und welchen Einfluss haben diese Ko-Medikationen auf die Wirksamkeit der HIV-Therapie? Diesen Fragen ging eine im März 2010 publizierte prospektive Studie unter den Teilnehmenden der Schweizer HIV-Kohortenstudie (SHCS) nach.
Im Management einer HIV-Infektion sind Wechselwirkungen zwischen Wirkstoffen der antiretroviralen Therapie (ART) und anderen Medikamenten zunehmend ein wichtiges Thema. Medikamentöse Wechselwirkungen können zu Toxizität (Giftigkeit) führen oder aber die Wirksamkeit von antiretroviralen Medikamenten mindern und damit Resistenzen hervorrufen. Das Thema wird nicht zuletzt wegen des grossen Erfolgs der ART immer wichtiger. Diese verlängert die Lebenserwartung HIV-positiver Menschen in hohem Masse, was dazu führt, dass immer mehr altersbedingte Erkrankungen auftreten – genau wie bei der Allgemeinbevölkerung.
Bei HIV-Patienten und Patientinnen muss die Behandlung dieser Krankheiten immer mit der ART abgestimmt werden. Dasselbe gilt im Falle von Ko-Infektionen (z.B. mit Hepatits B oder C), die bei HIV-positiven Menschen relativ häufig vorkommen. Aber auch alternative Heilmittel, die von PatientInnen selbst gekauft werden, können zu Wechselwirkungen führen.
Als Grundlage der Studie dienten die klinischen Daten aller Kohorten-Teilnehmenden, die von April 2008 bis Januar 2009 eine ärztliche Sprechstunde besuchten. Zudem wurden Patienten über selbst gekaufte und eingenommene Heilmittel befragt. Die Analyse von möglichen (nicht realen und eingetroffenen!) Wechselwirkungen wurde mithilfe von Medikamenten-Datenbanken sowie pharmazeutischen Experten durchgeführt. Daraus formulierte die Forschungsgruppe um Catia Marzolini vom Universitätsspital Basel Empfehlungen für die Absetzung oder Neuanpassung von Therapien. Ein Fragebogen an die behandelnden Ärzte und Ärztinnen erhob danach die getroffenen Massnahmen.
Ko-Medikationen sind häufig
68% der Patienten und Patientinnen (1‘013 von 1‘497) nahmen neben den antiretroviralen Medikamenten noch andere ärztlich verschriebene Präparate ein. 59% dieser Ko-Medikationen (597 von 1‘013) wiesen potentielle Wechselwirkungen auf, die eine Neudosierung und/oder genaue Beobachtung erfordern. Bei rund der Hälfte davon handelte es sich um Medikamente zur Behandlung des zentralen Nervensystems (dazu gehören einige Antidepressiva), über ein Drittel waren Mittel gegen Herz- und Kreislaufkrankheiten und bei fast einem Fünftel handelte es sich um Methadon.
Um gefährliche oder schädliche Wechselwirkungen handelte es sich aber „nur“ in 2% (21 von 1‘013) resp. 4 % (42). In 2% der Fälle waren die zusätzlich verabreichten Medikamente kontraindiziert, d.h. ihre Anwendung ist bei gleichzeitiger Einnahme von bestimmten HIV-Medikamenten verboten oder nur in absoluten Ausnahmefällen zugelassen. Bei 4% bestand die Möglichkeit, dass die Ko-Medikationen die Wirksamkeit der antiretroviralen Therapie mindern könnten.
Erfreulich: die Ärzte wissen, was sie tun
Ko-Medikationen waren zwar häufig, solche mit potentiell schädlichen und gefährlichen Wechselwirkungen hingegen selten. Das erfreuliche Fazit: Die potentiellen Wechselwirkungen beeinflussten weder die Nachweisbarkeit der Viruslast noch die Anzahl der CD4-Zellen. Diese unterschieden sich nämlich nicht bei Patienten mit Ko-Medikationen und solchen mit und ohne potentielle Wechselwirkungen. Dass die Anzahl der potentiell gefährlichen oder schädlichen Wechselwirkungen so klein war, führen die Forscher und Forscherinnen auf die Professionalität und die Spezialisierung der Ärzte und Ärztinnen in den der Kohorte angeschlossenen HIV-Behandlungszentren zurück. Denn die überwiegende Mehrheit der potentiellen Wechselwirkungen sind gut handhabbar, wenn bei Ko-Medikationen die Therapie genau beobachtet wird und nötige Anpassungen der Dosierung oder Kombination vorgenommen werden. Die Autoren der Studie weisen jedoch darauf hin, dass in anderen Settings, wo Fachpersonen nicht auf HIV spezialisiert sind, eventuell mehr potentiell schädliche Ko-Medikationen verabreicht würden.
Text: Shelley Berlowitz
C. Marzolini et al: Prevalence of comedications and effect of potential drug-drug interactions in the Swiss HIV Cohort Study, in: Antiviral Therapy 2010;15(3):413-2
POSITIV 2/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
Für Schlagzeilen an der diesjährigen IAS Konferenz in Rom sorgten aufsehenerregende Daten aus der Prävention. Die Wirksamkeit der Therapie als Präventionsinstrument wurde eindrücklich bewiesen. Erfolge mit Mikrobiziden, PrEP, „test and treat“-Strategien sowie Fortschritte mit Impfstoffen sind sehr ermutigend. Es zeichnet sich ab, dass die Epidemie in einigen Bevölkerungsgruppen verlangsamt, in anderen sogar gestoppt werden kann. Es stellt sich die Frage, wiedas in der Praxis umsetzt werden wird.
Am 18. Juli wurden im vollen Plenarsaal die Resultate der HPTN-052 Studie vorgestellt und gefeiert. Diese grosse Studie erbrachte einen eindrücklichen Nachweis für die Wirksamkeit der Therapie in der Prävention.
HPTN-052 kontrollierte ab 2005 insgesamt 1763 sero-diskordante heterosexuelle Paare in Malawi, Zimbabwe, Botswana, Kenya, Südafrika, Brasilien, Thailand, den USA und Indien. Die Einschlusskriterien: Der infizierte Partner (Partner können männlich oder weiblich sein) hat aufgrund hoher CD4-Werte noch keine Therapie-Indikation; der feste Partner, die Partnerin ist HIV-negativ. Die Patienten wurden in zwei Gruppen aufgeteilt: entweder sofortige antiretrovirale Therapie bei CD4-Werten zwischen 350 und 550/ml, oder abwarten, bis diese gemäss nationalen Richtlinien indiziert war (unter 250 CD4/ml). Der primäre Endpunkt der Studie war die Infektion des festen Partners mit dem Virus des infizierten Partners.
Lange Studiendauer, eindeutige Resultate
Bei einer Beobachtungszeit von durchschnittlich 2 Jahren wurden in der Studie 39 Partner infiziert. Bei 28 Infizierten konnte der Nachweis durch den festen Partner eindeutig bewiesen werden, bei 11 Infizierten wurde eine Infektion innerhalb der Partnerschaft ausgeschlossen. 27 von insgesamt 28 Infektionen innerhalb der Partnerschaft erfolgten in der Gruppe, der noch nicht therapierten Patienten. Interessant ist die eine Infektion in jener Gruppe, deren Partner bei Studienbeginn nicht infiziert waren. Die Neuinfektion wurde aber bereits bei der ersten Nachkontrolle nach 90 Tagen festgestellt. Die Analyse der Tests sprechen für eine nicht ganz frische Infektion. Die Autoren haben aufgrund der Veränderung der HIV-Viren den wahrscheinlichsten Infektionszeitpunkt mit -85 Tagen genau bei Beginn der HIV-Therapie berechnet. Das heisst: während der etablierten Therapie wurde niemand angesteckt. Damit reduziert die HIV-Therapie alleine das Übertragungsrisiko innerhalb der Partnerschaft um 96%. Angekündigt wurden diese Daten bereits Ende Mai, als die Studie aufgrund der eindeutigen Daten vorzeitig abgebrochen wurde. Das ist eine eindrückliche Bestätigung der Annahmen, welche dem 2008 publizierten EKAF-Statement zugrunde liegen.
Zaghafte Zuversicht für die südlichen Länder
Die HPTN-052 Zahlen werden die Diskussionen um Therapieprogramme und -beginn vor allem in den stark betroffenen Ländern des Südens fundamental verändern. Einige Stimmen warnten vor übertriebenem Optimismus: „Wissenschaftler und Aktivisten brauchen noch viel Überzeugungskraft, um Behörden und Geberländer von der Wichtigkeit der Daten und der dringlichen Anpassung von Behandlungsprogrammen in den von HIV am schwersten betroffenen Ländern zu überzeugen“, meinte Dr. Eli Katabira, Präsident der International AIDS Society. „Unterschätzen Sie nicht die Kraft eines wissenschaftlich begründeten Arguments, statt mit den Armen zu fuchteln“, entgegnete Anthony Fauci vom US-amerikanischen National Institute of Health.
Eine weitere Sitzung befasste sich mit den nächsten Schritten, der Herausforderung sogenannte „Behandlung als Präventionsprogramme“ umzusetzen. Die Hauptschwierigkeit dürfte darin bestehen, alle mit HIV infizierten Menschen aufzuspüren. In den meisten Ländern weiss eine Mehrheit der PLWHA nichts von ihrer Infektion. Es sind also möglichst gezielte Testprogramme nötig, mit sofortigem Behandlungsbeginn und unter Sicherstellung der langfristigen Adhärenz.
Viele Kongressteilnehmer waren der Ansicht, dass ein Behandlungsaufschub für Menschen mit HIV die in einer sero-diskordanten Partnerschaft leben ethisch nicht zu verantworten ist. Doch auch in dieser Frage herrschte kein Konsens – in einigen Gegenden der Welt lebt die Mehrzahl der Menschen mit HIV, mit oder ohne Diagnose, nicht in einer solchen Partnerschaft. Soll man diesen die Therapie verweigern, und die anderen bevorzugen?
Auch die Menschenrechte bieten Diskussionsstoff. Die Patienten müssen am Therapieentscheid mitwirken können, und niemand darf aus gesundheitspolitischen Gründen zu einer Therapie gezwungen werden. Gefordert ist jetzt insbesondere die WHO, welche Richtlinien zur Rolle der Therapie in der Prävention erarbeiten muss.
Was bedeuten die Daten für Europa, für die Schweiz?
Einige Länder werden sicher Therapierichtlinien anpassen müssen. Dies sollte mit Umsicht geschehen, sind doch noch nicht alle Nutzen der frühzeitigen Therapie für die Menschen mit HIV geklärt. Die auch in der Schweiz laufende START-Studie wird weiter klären. In der Schweiz ist die frühzeitige Therapie ab Diagnose heute schon möglich, und diese Möglichkeit wird bereits genutzt – auf Empfehlung des Arztes, der Ärztin, oder auf Wunsch der Patienten welche ihren Partner schützen möchten. Es dürfte sich hier in der Schweiz also wenig verändern. Allenfalls wird ein bereits bestehender Trend verstärkt.
Überdenken muss die Schweiz erstens die Präventionsstrategie, und zweitens die Testempfehlungen für schwule Männer mit Risikoverhalten. Die geltende Präventionsstrategie basiert auf der Prämisse „Jeder schützt sich selber“. Das stimmt so nicht mehr; wir können eindeutig etwas tun und Hilfestellungen anbieten die auch der Gesamtgesellschaft nützen. Die Testempfehlungen müssen dringend dem spezifischen Risikoverhalten der schwulen Männer und MSM angepasst werden. Wer viel Verkehr hat, muss öfter an die Boxen: Einmal pro Jahr genügt nicht für alle.
Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP)
Auch hier gab es ihn Rom neue, positive Daten aus zwei Studien mit heterosexuellen Paaren. Die Daten wurden bereits vor der Konferenz angekündigt, die Studien wurden aufgrund der positiven Daten vorzeitig abgebrochen. Die Partner-Studie verglich Tenofovir und Tenofovir/FTC (Truvada) versus Placebo bei sero-diskordanten Paaren in Kenya und Uganda; die TDF2-Studie verglich Truvada gegen Placebo bei heterosexuellen Paaren in Botswana. Die Partners-Studie zeigte einen für Tenofovir eine Schutzwirkung von 62%, für Truvada etwas besser, 73%. In TDF2 war die Schutzwirkung von Truvada 63% insgesamt, jedoch 78% bei den Paaren, welche vor weniger als einem Monat Medikamente bezogen hatten. Dieser Umständ macht erneut die Therapietreue-Problematik beim Einsatz von PrEP deutlich.
Was bedeuten die Daten aus Rom für die Prävention?
Vor allem eines: es wird komplex. Wir wissen jetzt, dass sowohl ein früher Therapiebeginn, der Einsatz von PrEP und vaginale Mikrobizide einen Einfluss auf die HIV-Übertragungsraten haben. Doch mit dem Nachweis der Wirksamkeit einer bestimmten Intervention alleine ist es nicht getan.
Wir müssen verstehen, weshalb bestimmte Interventionen in gewissen Risikogruppen funktionieren und in anderen nicht (gewisse Resultate sind widersprüchlich oder nicht eindeutig). Wir müssen die spezifischen Eigenschaften sexueller Netzwerke, sexuellen Verhaltens und die lokale Epidemiologie verstehen – diese beeinflussen die Wirksamkeit der Interventionen. Und wir müssen insbesondere die Wirksamkeit einer isolierten Intervention mit dem kombinierten Einsatz eines Präventionspaketes vergleichen.
Die „beste“ oder „wirksamste“ Einzelintervention wird es wohl nicht geben – wohl aber das auf die spezifische, lokale Risikogruppe abgestimmte Interventionspaket. Wir brauchen also zusätzliche, lokale Studien welche sich mit diesen Komponenten (Einzelteile) und deren Implementierung befassen. Schliesslich und endlich wollen wir auch ganz einfach wissen „Was bringt’s und was kostet’s?“.
Einhundert bis einhundertfünfzig verhinderte Infektionen bei MSM in der Schweiz bedeuten eine Kostenersparnis von mehr als zwei bis drei Mio. Franken, und diese Zahl kumuliert sich jedes Jahr. Angesichts der Schweizer Fallzahlen und der Daten aus Rom sollte dieses Ziel realistisch sein. Das Erreichen der Zielvorgabe bedingt die Entwicklung der richtigen Studien, verbesserte Surveillance, eine Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Behörden, Ärzteschaft, Forschern, AIDS-Hilfen und Betroffenen und das Erstellen möglichst realistischer epidemiologischer Modelle.
Gefordert sind jetzt viel Nachdenken, gute Planung und eine optimale Abstimmung der Akteure, nicht aber Schnellschüsse. Es gilt auch, die am tiefsten hängenden Früchte zuerst zu pflücken – und das wäre in der Schweiz jene gut 35% der HIV-Patienten ausfindig zu machen, welche heute als nicht diagnostizierte Late-Presenter in die Klinik kommen sowie Menschen mit einer HIV-Primoinfektion zu erkennen, zu beraten und zu therapieren.
Text: David H.-U. Haerry
Der Autor dankt Prof. Pietro Vernazza vom Kantonsspital St. Gallen für die Durchsicht des Manuskripts.
POSITIV 2/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
Richards Doppelinfektion mit HIV und Syphilis hat nicht nur sein Leben, sondern auch seine Einstellung dazu komplett verändert. Seine bereits ins dritte Stadium fortgeschrittene Syphilis-Erkrankung konnte zwar geheilt werden, verursachte aber zuvor Schädigungen am Gehirn.
Bis vor Kurzem fühlte sich Richard* noch kerngesund. Und da er nie krank war, hatte der selbständige Geschäftsmann nicht mal einen festen Hausarzt. Im Sommer 2006 machten sich dann aber erste Symptome zweier Infektionen bemerkbar, die Richard von da an sein Leben lang beschäftigen sollten. Angefangen hatte alles mit einer vermeintlichen Erkältung, gefolgt von einer weiteren, von der sich Richard aber nicht mehr richtig erholte. „Ich war darauf permanent erschöpft und verlor merklich an Gewicht“, erinnert er sich. „Als dann auch noch meine linke Hand andauernd zitterte, war ich überzeugt, dass etwas mit meinem Körper nicht mehr stimmte und kriegte Angst.“ Richard gingen alle möglichen Krankheiten, die er haben könnte, durch den Kopf – nur nicht jene, die später diagnostiziert wurden: HIV und Syphilis im fortgeschrittenen Stadium.
Syphilis griff Hirn an
Der Arzt, der die Diagnose stellte, meldete Richard unmittelbar zu einem ambulanten neurologischen Untersuch im Spital an. Doch Richards Gesundheitszustand war so ernst, dass er das Spital vorerst nicht mehr verlassen konnte. Denn die bereits ins dritte Stadium fortgeschrittene Syphilis hatte eine Hirnhautentzündung verursacht und das HI-Virus einen Grossteil seiner CD4-Zellen, die helfen Infekte abzuwehren, zerstört.
Penizillin, Kortison, Insulin, Virostatika – die Behandlung von Richards HIV- und Syphilis-Ko-Infektion und deren Folgen kam einer Rosskur gleich. „Wäre ich gestorben, hätte man mich als Sondermüll entsorgen müssen“, scherzt Richard, der trotz möglicherweise bleibenden Hirnschäden seinen Humor nicht verloren hat.
Richard erinnert sich nur ungern an die Zeit, als er nicht nachvollziehen konnte, was mit seinem Körper passierte. „Einem Gespräch zuzuhören war mir damals unmöglich. Denn es schien mir, als hörte ich mit einem Ohr schneller als mit dem anderen und dies verursachte ein totales Chaos in meinem Kopf.“ Die Hirnhautentzündung zog auch den Sehsinn in Mitleidenschaft. Um etwas scharf sehen zu können, musste er ein Auge schliessen. Doch Augen und Ohren waren intakt, sein Gehirn jedoch nicht mehr, was immer wieder seine Konzentrationsfähigkeit ausser Gefecht setzte und seine Motorik auf der linken Seite nicht mehr funktionieren liess.
Positiv HIV-positiv
Als er nach mehreren Wochen aus dem Spital entlassen wurde, schaffte es Richard kaum, die zwei Treppen zu seiner Wohnung zu bewältigen. Nachdem er die Stufen in den folgenden Wochen und Monaten unzählige Male hinauf und hinunter gestiegen ist, um seine Muskulatur wieder aufzubauen, gelangt er heute wieder ohne grosse Mühe in seine Wohnung. Doch auch ein Jahr nach dem Spitalaufenthalt vergeht fast kein Tag, an dem er nicht infolge seiner Einschränkungen in Beweglichkeit, Feinmotorik und Konzentration an Grenzen stösst. „Es gibt schon immer wieder mal Momente, bei denen ich mich frage: Bin ich jetzt nur noch unnötiger Ballast?“ erzählt Richard. Doch dies komme glücklicherweise nicht oft vor, denn eigentlich liege es ihm fern, mit dem Schicksal zu hadern. „Trotz geteilter Meinung der Ärzte gebe ich nach wie vor die Hoffnung nicht auf, dass ich irgendwann wieder ganz auf die Beine kommen werde“, sagt der Selbstständigerwerbende, der immer noch arbeitsunfähig ist.
Zuversicht und Kraft, um weiter zu kämpfen, findet Richard in der Meditation und in der Beziehung mit seinem langjährigen Partner. „Ich bin so unsagbar froh, dass ich ihn nicht mit HIV angesteckt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit fertig geworden wäre. Denn in meinem Leben ist er der Glücksfall schlechthin.“ Schöne, aber alltägliche Erlebnisse erfreuen Richard heute viel mehr als früher: „Wenn ich bei schönem Wetter die Sonne auf meiner Haut spüre und merke, dass ich noch am Leben bin, dann ruft das in mir manchmal ein starkes Gefühl von Glück und Dankbarkeit hervor.“
Die Folgen seiner Ko-Infektion haben Richard nicht nur körperlich verändert, sondern auch seine Wertvorstellungen. „Mir ist bewusst geworden, dass viele automatische körperliche Abläufe gar nicht so automatisch und selbstverständlich sind. Ich schätze deshalb all die Dinge, die ich trotz meinen Defiziten tun kann und erfreue mich über jeden noch so winzigen Fortschritt.“
*Name von der Redaktion geändert
Text: Markus Fleischli, Bild: photocase.com
POSITIV 2/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
Jährlich sterben in der Schweiz zwischen 1300 und 1400 Menschen an Suizid. Seit der Einführung der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) ist die Suizidrate unter den Menschen mit HIV/Aids in der Schweiz massiv zurückgegangen. Sie ist aber immer noch dreimal so hoch wie in der Schweizer Allgemeinbevölkerung.
Dr. Olivia Keiser und ihr Team vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern hat für die Jahre 1988-2008 die Anzahl der Suizide und die Risikofaktoren unter den HIV-Positiven der Schweizer HIV-Kohorte mit jener in der Gesamtbevölkerung verglichen. Ihre Studie ist 2010 im American Journal of Psychiatry erschienen. Als Grundlage dienten die Daten aus zwei Kohorten: der Schweizerischen Nationalen Kohorte, in der anonyme Gesundheitsdaten aus Volkszählungen und Mortalitätsstatistiken der Schweizer Bevölkerung vernetzt werden, und der Schweizerischen HIV-Kohorte. In der HIV-Kohorte sind seit 1988 rund 40% aller HIV-PatientInnen und 70% aller Aids-Kranken der Schweiz erfasst. 150 HIV-PatientInnen begingen im Zeitraum 1988 bis 2008 Suizid. Für die Studie wurden die Daten von 15‘275 HIV-PatientInnen der HIV-Kohorte verwendet. Zudem wurden für die 150 PatientInnen, die Suizid begangen hatten, medizinischen Fachpersonen einen Fragebogen mit Fragen zu deren psychiatrischen Behandlung, Alkoholmissbrauch und Selbstmordversuchen zugeschickt, 136 davon wurden beantwortet und zurück gesendet.
Die Einführung der hochwirksamen antiretroviralen Therapie (HAART) im Jahre 1996 hatte einen grossen einen Einfluss auf die Selbstmordrate unter HIV-positiven Menschen. Suizide von HIV-Positiven gingen in den Jahren ab 1998 um über 50% zurück. Dabei war der Rückgang unter Männern weit grösser als unter Frauen. Es erstaunt nicht, dass Selbstmorde vor der Einführung von HAART viel häu¬figer waren als heute. Eine HIV-Infektion bedeutete vor 1996 ein sicheres Todesurteil. Heute haben HIV-infizierte Menschen eine vergleichbare Lebenserwartung wie HIV-Negative und können eine gute Lebensqualität aufweisen.
Sowohl in der HIV-Kohorte wie auch in der Allgemeinbevölkerung waren es tendenziell ältere Menschen, Männer und Schweizer BürgerInnen, die suizidgefährdet waren. In der HIV-Kohorte kamen Suizide zudem besonders bei Menschen vor, die in einem fortgeschrittenem Krank¬heitsstadium oder psychiatrischer Behandlung waren, oder die intravenös Drogen konsu¬mierten. 62% HIV-PatientInnen, die Suizid begingen, hatten eine psychiatrische Diagnose – in der Regel wurde diese nach der HIV-Diagnose gestellt. Dabei handelte es sich in erster Linie um Depressionen, Angststörungen, Belastungsstörungen und Psycho¬sen. In den Fragebögen gab das medizinische Personal allerdings in den meisten Fällen die Progression der HIV-Infektion als wahrscheinlichsten Grund für den Selbstmord an. An zweiter Stelle wurden psychosoziale Probleme genannt.
Obwohl die Suizidrate unter HIV-Positiven massiv gesunken ist, ist sie immer noch signifikant höher als jene der Allgemeinbevölkerung. Auch im Vergleich mit PatientInnen mit anderen chronischen Krankheiten haben HIV-Positive ein höheres Suizidrisiko – auch in der Zeit nach HAART. Das dürfte damit zusammenhängen, dass HIV-positive Menschen immer noch tendenziell mehr Stigmatisierung, Diskriminierung und soziale Isolation erleben. Depressionen und Angstzustände sind oft diagnostizierte psychische Lei¬den unter ihnen – alles Risikofaktoren für Suizid. Immerhin wurde eine signifikante Minderheit von 36.5% (vor der Einführung von HAART) und 23.2% (danach) unter den HIV-Positiven mit psychischen Problemen nicht psychiatrisch behandelt. „Ein verstärktes Screening von psychischen Krankheiten bei HIV-Positiven und mehr Zugang zu pharmakologischer und psychologischer Behandlung für HIV-positive PatientInnen wäre durchaus berechtigt“, sagte die Studienleiterin Olivia Keiser. Tatsächlich zeigen die Resultate ihrer Studie, dass HIV-positive Menschen mehr psychologische Unterstützung brauchen und dass vermehrte Aufmerksamkeit auf ihre Suizidgefährdung gelegt werden sollte.
Shelley Berlowitz, Aids-Hilfe Schweiz
1 Olivia Keiser et al: Suicide in HIV-Infected Individuals and the General Population in Switzerland, 1988–2008, in: J Psychiatry 2010; 167:143-
POSITIV 1/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
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