Nach der Definition von UNAIDS ist die Schweiz von einer "konzentrierten" HIV-Epidemie betroffen. Das heisst, dass das Virus nicht gleichmässig in der ganzen Bevölkerung verbreitet wurde, sondern in einer oder mehreren Bevölkerungsgruppen deutlich häufiger vorkommt. In der Schweiz gibt es drei Gruppen, bei denen die Prävalenz höher als 5% beträgt: Neben Schwulen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben sind es Migrantinnen und Migranten aus Ländern mit generell erhöhter Prävalenz und Menschen, welche Drogen intravenös konsumieren.
Die Prävalenz von HIV ist in den Ländern südlich der Sahara in den jeweiligen Bevölkerungen generell erhöht – UNAIDS spricht von einer „generalisierten“ Epidemie. Gruppen von MigrantInnen können – müssen aber nicht – die Prävalenz in ihrem Herkunftsland aufweisen. Die MigrantInnen aus Subsahara-Afrika sind in der Schweiz die zweitgrösste, von HIV besonders betroffene Gruppe. Das BAG rechnet mit weniger als 100'000 Personen aus diesen Ländern, welche sich in der Schweiz aufhalten. Die Zahl der Männer, die mit Männern Sex haben, ist nicht bekannt, wird aber auf deutlich über 10'000 geschätzt. Und es gibt ca. 20'000 bis 30'000 Menschen, welche Drogen intravenös konsumieren oder dies lange getan haben.
Zielgruppenspezifische Prävention!
Das Schweizerische HIV-Präventionskonzept der drei Ebenen der Präventionskommunikation wurde schon Mitte der 80er Jahre entwickelt: Grundinformation für die ganze Bevölkerung, zielgruppenspezifische Information und Motivation für besonders gefährdete Gruppen sowie individuelle Beratung und Begleitung für besonders gefährdete und/oder betroffene Menschen. Die Mobilisierung und Selbstorganisation von homosexuellen Männern Mitte der 80er Jahre und die von ihnen initiierte Gründung von Aids-Hilfen ist zum Modellfall von Public Health geworden. Exemplarisch dabei ist die Akzeptierung des Problems durch die betroffene Gruppe: „Ja, wir haben ein Problem und wir organisieren die Lösung selbst“. Selbstorganisation und Mobilisierung folgten diesem öffentlichen Bekenntnis Damit verlor die Stigmatisierung an Kraft, und die Gesellschaft entwickelte Respekt vor dieser vorher diskriminierten Gruppe.
MigrantInnen aus Afrika südlich der Sahara
In den letzten 25 Jahren Aids-Arbeit in der Schweiz hat sich der Fokus der Aufmerksamkeit immer wieder verschoben: Mitte der 80er Jahre dominierte die Angst vor der "Schwulenseuche". Dann rückten Spritzentausch, Drogenkonsum, Harm Reduction (Bundesterrasse, Platzspitz und Letten) ins Zentrum des Interesses. Die 90er Jahre waren geprägt von der Angst, HIV könnte sich doch noch in der ganzen Bevölkerung verbreiten. Ab dem Jahr 2000 erschreckte die starke Zunahme von neu gemeldeten heterosexuell übertragenen HIV-Infektionen bei MigrantInnen aus Subsahara-Afrika und die damit verbundene Angst, dass gewisse Kreise mit diesem Thema Ausländer-Politik machen wollten. Ein Rapid Assessment (1) war die wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung des Pilotprojekts „Afrimedia“ durch das Schweizerische Rote Kreuz mit fachlicher Unterstützung durch das ehemalige Schweizerische Tropeninstitut in Basel. Das Projekt Afrimedia, mittlerweile bei der Aids-Hilfe Schweiz angesiedelt und weiterhin vom BAG finanziert, gilt als Modellfall eines zielgruppenspezifischen Präventionsprojektes, welches mit MultiplikatorInnen aus der Zielgruppe arbeitet.
In Zukunft: Prävention durch die Betroffenen selbst
Das Projekt Afrimedia wurde im Rahmen der externen Evaluation der Umsetzung des Nationalen HIV/Aids-Programms 2004 – 2008 ausdrücklich gelobt und zur Weiterführung und -entwicklung empfohlen.(2) Heute erfüllt das Projekt die Anforderung, dass Prävention nicht für die Zielgruppe sondern mit ihr entwickelt und organisiert wird (Partizipation). Richtig erfolgreich wird Afrimedia aber erst dann, wenn es dem Projekt gelingt, die Zielgruppe so zu mobilisieren, dass die Prävention von der Zielgruppe selber übernommen wird. Dazu braucht es zweierlei: Einerseits die Bereitschaft der Zielgruppe, das Problem HIV für sich selbst zu akzeptieren und „dazu zu stehen“, auch wenn weiterhin begründete Ängste vor Diskriminierung und Stigmatisierung bestehen. Andererseits müssen die hiesigen Profis der HIV-Arbeit umdenken lernen und alle eigenen Bemühungen am Ziel des Empowerments der Zielgruppe messen lassen. Nur Hilfe zur Selbsthilfe und Unterstützung bei der Stärkung der Zielgruppe im Blick auf Selbstmanagement der Projekte ist längerfristig nützliche und nachhaltige Hilfe. Finanzielle Ressourcen müssen in Zukunft direkt in die Zielgruppe bzw. deren Projekte fliessen und die personellen Ressourcen aus der Zielgruppe rekrutiert werden.
Leitung des Nationalen Programmes HIV/STI
Bundesamt für Gesundheit, Bern
(1) Zuppinger B, Kopp C, Wicker H-R, "Interventionsplan HIV/Aids-Prävention bei Sub-Sahara MigrantInnen", Rapid Assessment im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit, Bern, Institut für Ethnologie, 2000, http://www.bag.admin.ch/evaluation/01759/02069/02191/index.html?lang=de.
(2) Rosenbrock R, Almedal C, Elford J et al., "Beurteilung der Schweizer HIV-Politik durch ein internationales Expertenpanel", Studie zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit, Horgen: Syntagma GmbH, 2009, http://www.bag.admin.ch/evaluation/01759/02062/06256/index.html?lang=de.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Dr. des. Divine Fuh ist Ethnologe an der Universität Basel. Er stammt aus Kamerun und befasst sich seit vielen Jahren mit Fragen der männlichen Identität unter jungen Afrikanern, vorzugsweise in seinem Heimatland. Fuh war als Experte auch während mehrerer Jahre in HIV-Präventionsprojekten involviert und hat diverse Institutionen bei der Entwicklung und Lancierung nationaler Projekte beraten. Im Gespräch äussert er sich zum Phänomen multipler Partnerschaften in Afrika.
Lieber Herr Fuh, sind multiple Partnerschaften generell verbreitet in den Ländern der Region Subsahara-Afrika? Oder sind sie eine Erscheinung in bestimmten sozialen Gruppen?
Soweit ich sehe, ist dieses Beziehungsmuster gerade bei jüngeren Menschen im Altersbereich zwischen 15 und 35 ein weit verbreitetes Phänomen, und nicht nur in urbanen Regionen. Junge Frauen und Männer haben dabei ihre je eigenen Motive für die Führung mehrerer gleichzeitiger Beziehungen.
Handelt es sich um ein traditionell normiertes System, eine Art moderner Polygamie?
Ich würde Polygamie klar unterscheiden von dem Phänomen, um das es hier geht. Erstens war Polygamie ein stark normiertes System in Clangesellschaften, dass für das Individuum wenig Handlungsspielraum liess. Zweitens spielen die Frauen in modernen, multiplen Partnerschaften eine wesentlich aktivere Rolle. Ich würde es als eine Art modernder Beziehungswirtschaft bezeichnen. Meiner Meinung nach reden wir hier von einer Erscheinung, die keineswegs auf Afrika beschränkt ist. In vielen westlichen Ländern hat man ähnliche Phänomene beobachtet. Allerdings wird damit unterschiedlich umgegangen: in Frankreich sind multiple Partnerschaften ein diskussionsfähiges Thema, in der Schweiz nicht.
Als Beobachter hat man den Eindruck, dass dieses Beziehungsmodell erhebliche Ressourcen voraussetzt, dass es also eher eine Erscheinung in wirtschaftlich besser gestellten Gruppen ist.
Das entspricht nicht meinen Erfahrungen. Zwar mögen die Art und die Grösse der eingesetzten Ressourcen variieren, aber die Struktur des Modells ist nicht auf eine bestimmte soziale Schicht begrenzt. Man sollte auch bedenken, dass multiple Beziehungen in der Regel funktional differenziert sind. Beschreibungen wie die der "3 C" oder der "Five Ministries" (1), die sehr verbreitet sind, drücken das sehr treffend aus. Ein einzelner Partner muss also nicht alles leisten, sondern nur die von ihm erwartete Funktion erfüllen. Ausserdem investieren Partner in multiplen Beziehungen nicht nur eigene Ressourcen, sondern sie erhalten auch Gegenleistungen: Sex, Geld, Respekt, Status, Güter usw..
Die Anforderungen zwischen PartnerInnen verändern sich grundsätzlich immer mit der Zeit. Es erstaunt deshalb nicht, dass in unserem Zeitalter des Konsums junge Menschen "Beziehungswirtschaften" betreiben. Und dass die entsprechenden Einstellungen dazu auch dem übrigen Konsumverhalten ähneln. Das ist aber keine afrikanische Besonderheit.
Präventionskampagnen in Europa haben dieses Phänomen bisher kaum thematisiert, obwohl die Fakten relativ gut bekannt und tw. auch untersucht sind. Man befürchtet hauptsächlich, damit die angezielten Publika abzuweisen, weil derartige Kampagnen als moralische Imperative verstanden werden könnten.
In der Prävention sollte man nicht so tun, als existierte das Phänomen multipler Partnerschaften nicht. Aber ebensowenig sollte man es moralzentriert angehen. Es sollte einer der Aspekte sein den man, neben anderen, mit Präventionskampagnen anspricht. Denn es ist ein Aspekt, der mindestens für individuelle HIV-Risiken eine Rolle spielen kann. Und da es letztlich um ein gesundheitlichen Problem geht, sollte man auch auf die gesundheitlichen Aspekte fokussieren.
Erreicht man mit solchen Kampagnen etwas in Bezug auf die Neigung zu multiplen Partnerschaften?
Man kann in diesem Bereich ebenso gut etwas erreichen wie in jedem anderen Präventionsbereich. Die Frage ist, wie man die Sache zum Thema macht und wer das Zielpublikum sein soll. Wenn man über Sex spricht, hören gerade junge Leute immer sehr aufmerksam zu. Und sie sind sehr anpassungsfähig. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass in afrikanischen Ländern mit Kampagnen zum sexuellen Verhalten etwas erreicht wurde.
Danke für dieses interessante Interview.
Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Der Ausdruck "3 C" ist speziell unter jüngeren Afrikanerinnen verbreitet. Er steht für die materiellen Bedürfnisse, die junge Frauen durch ihre (ev. verschiedenen) Partner erfüllt haben möchten: "Car, Cash, Cellphone". Ein Partner kann z.B. mit der Zahl der "C", die er erfüllt, bewertet werden; oder er kann grundsätzlich als "3C" bezeichnet werden.
"Five Ministries" ist ein analoger Ausdruck, der in allen Altersgruppen bekannt ist. Er bedeutet wörtlich "5 Ministerien" und damit sind gemeint: Transport (Auto), Kommunikation (Cellphone, Internet etc.); Aussenministerium (zuständig für Zugang zu Parties oder repräsentativen Veranstaltungen), Finanzministerium, Innenministerium (Wohnung, Komfort, Sexualität etc.). Der Innenminister ist in der Regel der feste Partner ("Titulaire").
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Casablanca, 28. - 31. März 2010
Gegen 2000 Personen, mehr als die Hälfte davon aus den Ländern des Südens, nahmen an dieser wichtigsten frankophonen HIV/Aids-Konferenz in Marokko teil. Im Zentrum standen Fragen der Therapieversorgung, der Migration und von Stigma und Diskriminierung von HIV/Aids.
Wir wissen genug, können wir handeln?
Die HIV-Therapie ist zentral für die Lebens- und Gesundheitserwartung von Menschen mit HIV und gleichzeitig spielt sie für die HIV-Prävention eine wichtige Rolle. Für die Ausweitung der Therapieversorgung stellen sich für die Länder des Südens aber weiterhin grosse Herausforderungen. Und dies in einer Situation, in der zu jeder therapierten Person zwei neu Infizierte hinzukommen. 2005 setzten sich die Vereinten Nationen (UNAIDS) das ergeizige Ziel, bis 2015 die Hälfte aller Menschen mit HIV-Therapiebedarf zu versorgen. Dazu mussten die Rahmenbedingungen geschaffen, die finanziellen Mitteln beschafft und die Akteure zur Umsetzung des Plans "3 by 5" mobilisiert werden. In Casablanca wurde diesbezüglich eine gemischte Bilanz gezogen. Einerseits konnten die Medikamentenpreise seit 2006 um 50% gesenkt werden und die Medikamentenversorgung hat sich verbessert (1). Andererseits sind tiefere Preise und mehr Geld nötig. (2) Dazu gehört auch die Möglichkeit zur Produktion von Generika vor Ort und dies bedingt die Freigabe bestimmter Wirkstoffpatente. Darum wurde von Unitaids erneut zur Konstituierung eines Patente-Pools aufgerufen.(3) Einige Länder verfolgen diese Politik bereits erfolgreich und haben entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen.
Stand 2010: Herausforderungen, Probleme
Neben der Finanzproblematik, die auch Medikamente gegen andere wichtige Infektionen wie TB und HCV betrifft, besteht das Problem, dass das vorhandene Wissen nicht in Handeln übersetzt wird. Das betrifft z.B. den Einsatz von klassischen Präventionsmitteln, aber auch Massnahmen zur Förderung der Therapietreue. Nötig ist eine «éducation thérapeutique». Es ist die Aufgabe der MediatorInnen, aber auch aller anderen AkteurInnen, die Observanz von Präventions- und Therapiemassnahmen zu sichern. Das ist speziell wichtig im Hinblick auf die auch in Afrika markant steigende Lebenserwartung von Menschen mit HIV unter ART.
Diskriminierung und Stigmatisierung von HIV+ und Homosexuellen sind nach wie vor stark verbreitet. Insbesondere die Gesetzgebung in (nord)afrikanischen Ländern mit Strafandrohung für Homosexualität erschwert Prävention und Therapie. Allerdings ist Diskriminierung gerade auch für Frauen in Afrika ein wichtiges Problem. Weiter muss Prävention und Versorung stärker in besonders vulnerablen Gruppen wie Strafgefangenen, FSW und und IDU ausgeweitet werden.
Betont wurde weiter die Wichtigkeit der psychologischen Akzeptanz der Infektion bzw. des Infektionsrisikos. Die Anwendung von Präventionswissen, Therapiewissen und nachhaltigem Gesundheitspflegewissen sind bedeutende Herausforderung sowohl für die Forschung als auch für die Bildung im Gesundheitsbereich.
Homosexualität ist kein koloniales Problem
Cheikh Ibrahima Niang aus Kamerun demontierte demgegenüber den (afrikanischen) Mythos, dass Homosexualität ein von ausserhalb nach Afrika importiertes Phänomen sei und plädierte für die „Integration des Anderen“. Niang ist Anthropologe, lehrt in Dakar und befasst sich seit langer Zeit mit den sozialen Aspekten der HIV-Epidemien in Senegal, Côte d'Ivoire, Ruanda, Burkina Faso, Gambia und Guinea. Er war verschiedentlich als Berater für UNAIDS tätig und koordiniert das SAHARA-Netzwerk für Westafrika (Social Aspects of HIV/AIDS Research Alliance). (4)
Die nächste, 6. Conférence Francophone sur le VIH/SIDA wird 2012 in Genf stattfinden. (5)
Barbara Beaussacq, Noël Tshibangu, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Durchschnittlich sind 40% des Bedarfs gedeckt, www.unaids.org.
(2) The Global Fund stellt jährlich 19 Mia Dollar zur Verfügung, www.theglobalfund.org.
(3) Patent Pool Intitiative: www.unitaid.eu.
(4) www.sahara.org.za.
(5) www.vihcasablanca2010.com.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Wenn es um die Gesundheit geht, ist es entscheidend, zu verstehen und verstanden zu werden. Fremdsprachige brauchen daher bei Beratungsgesprächen oder Arztkonsultationen nicht selten interkulturelles Übersetzen – eine Dienstleistung, die in der multikulturellen Schweiz zusehends an Bedeutung gewinnt.
Die Behandlung und Prävention von HIV/Aids ist ein komplexes und sehr sensibles Thema, bei dem vertrauensvolle und differenzierte Gespräche eine zentrale Rolle spielen. Wenn diese Gespräche auch mit den hierzulande lebenden Migranten und Migrantinnen gelingen sollen, ist die Anwesenheit von interkulturellen Übersetzern oder Übersetzerinnen oft unerlässlich. Interkulturelles Übersetzen unterscheidet sich vom herkömmlichen Dolmetschen darin, dass bei Bedarf auch eine kulturelle Übersetzungsleistung erbracht wird; etwa indem die am Gespräch Beteiligten auf unterschiedliche Wahrnehmungen, Wertvorstellungen und Bedeutungen aufmerksam gemacht werden.
Zurzeit leben in der Schweiz schätzungsweise 200‘000 Personen, die weder eine Landessprache noch Englisch verstehen. In der Migrationsbevölkerung, die etwa einen Fünftel der Wohnbevölkerung ausmacht, gibt es zudem eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Personen, die zwar ein Alltagsgespräch bewältigen können, aber von komplizierteren Erläuterungen zu Gesundheitsfragen bald einmal sprachlich überfordert sind. Dies kann sich zum Beispiel bei Arztgesprächen negativ auf das Vertrauensverhältnis, die Patientenzufriedenheit und die Therapietreue auswirken; zudem besteht auch das Risiko einer Fehldiagnose oder falschen Behandlung.
Fachleute und Behörden haben das Problem erkannt: Das interkulturelle Übersetzen ist daher seit 2002 ein Schwerpunkt des Nationalen Programms Migration und Gesundheit, das durch das Bundesamt für Gesundheit umgesetzt wird. Bislang sind 650 Personen als interkulturelle Übersetzer bzw. Übersetzerinnen in den 50 geläufigsten Sprachen der Migrationsbevölkerung zertifiziert worden. Sie sind an die Schweigepflicht gebunden und können – im Gegensatz zu den spontan zum Übersetzen herbeigezogenen Angehörigen von Fremdsprachigen – eine professionelle Qualität der Verständigung bei Arztkonsultationen oder Beratungsgesprächen gewährleisten. Ihre Dienste können via regionale Vermittlungsstellen angefordert werden, die auf der Webseite der Dachorgansiation Interpret aufgelistet sind.
Im Rahmen des Programms Migration und Gesundheit tragen auch folgende Projekte und Publikationen zur Förderung des interkulturellen Übersetzens bei:
Kurzum, es tut sich vieles. Jetzt sollte das vielfältige Angebot nur noch besser bekannt und genutzt werden.
Agatha Blaser, Bundesamt für Gesundheit, Nationales Programm Migration und Gesundheit, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Nützliche Links:
Dachorganisation Interpret: www.inter-pret.ch
Gesundheitsratgeber für Migranten und Migrantinnen: www.migesplus.ch
Nationales Programm Migration und Gesundheit (Film, Spitalhandbuch und wissenschaftliche Studien): www.miges.admin.ch
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Besonders beim Therapiebeginn und bei der Umstellung eines HIV-Medikaments leiden viele HIV-PatientInnen an Durchfall, Übelkeit und Erbrechen. Diese Beschwerden verschwinden in vielen Fällen nach einigen Wochen. Wenn sie besonders schwer oder andauernd sind, gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie man ihnen begegnen kann. ÄrztInnen und PatientInnen sollten diese Symptome sorgfältig beobachten und miteinander darüber kommunizieren. Nicht immer ist die antiretrovirale Therapie die Ursache für Magen-Darm-Probleme.
Die HIV-Infektion wirkt sich zerstörerisch aus auf das Immunsystem, und das hat in verschiedenen Hinsichten Folgen für die Magen-Darm-Gesundheit. Die Magen-Darmregion enthält die grösste Konzentration von T-Helferzellen, und diese Zellen sind die wichtigsten Ziele von HI-Viren. Das führt zuerst zu einer Schwächung der Immunabwehr in dieser Gegend. Die antiretrovirale Therapie (ART) kann diesen schädlichen Effekten teilweise vorbeugen, bzw. zu einer Verbesserung der Situation führen.
HIV-Medikamente können aber, durch ihre chemische Wirkung, ihrerseits zu Verdauungsproblemen führen, vor allem zu Beginn einer Therapie. Magen-Darm-Effekte sind ein häufiges Problem mit hoch wirksamen medikamentösen Therapien, die HIV-Therapie ist diesbezüglich kein Sonderfall. Ein grosser Teil der HIV-PatientInnen, die eine Therapie beginnen oder umstellen, leidet vorübergehend an derartigen Beschwerden. (1) Die Probleme reichen von Schluckbeschwerden, über Magenschmerzen und Übelkeit bis zu Erbrechen und Durchfall. Bei einigen PatientInnen sind diese Nebenwirkungen so stark und fortdauernd, dass ein HIV-Medikament ausgewechselt wird, wenn das möglich ist. (2) Grundsätzlich gilt, dass Magen-Darm-Probleme zwar für die Betroffenen höchst unangenehm sein können, sie sind aber nur in den seltensten Fällen medizinisch bedrohlich.
Folgen für die Therapietreue!
Probleme mit der Magen-Darmgesundheit sind einer der wichtigsten Faktoren für die Nichteinhaltung der Therapietreue, bzw. für eine Therapieumstellung. Viele PatientInnen treffen eigene Massnahmen, um Durchfall, Erbrechen und andere derartige Symptome unter Kontrolle zu bringen. Oft wird dabei die Dosierung der HIV-Medikamente verändert, oder es werden spezielle Medikamente eingesetzt, ohne dass der behandelnde Arzt darüber informiert ist. (3) Dies kann zu Therapiekomplikationen führen bis hin zum Therapieversagen. Es ist deshalb wichtig, dass PatientInnen Verdauungsprobleme mit dem Arzt besprechen und dass HIV-Spezialisten diese Rückmeldungen ernst nehmen.
Es existieren diverse Möglichkeiten, um Magen-Darm-Problemen im Zusammenhang mit einer HIV-Therapie wirkungsvoll zu begegnen. Voraussetzung für deren Einsatz ist ein funktionierender Informationsfluss zwischen HIV-Arzt und PatientIn. Es ist ein Vorteil in dieser Situation, wenn HIV-ÄrztInnen klare Vorstellungen haben über die bestehenden - nicht immer schulmedizinischen - Alternativen und PatientInnen zur Ernährungsberatung verhelfen können.
Wenn Magen-Darm-Beschwerden während eines Monats nicht bessern, sollten medizinische Massnahmen ergriffen werden. Nach drei Monaten sollte in der Regel eine Umstellung der ART vorgesehen werden. Nicht in allen Fällen kann das Problem behoben werden. Für PatientInnen mit Therapieversagen, bei denen die Kombination der ART schon mehrfach umgestellt worden ist, bestehen möglicherweise keine Alternativen.
Durchfall
Durchfall (Diarrhoe) gehört zu den verbreitetsten Magen-Darm-Nebenwirkung der ART. In einer Studie der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) gaben knapp 30% der 1078 befragten PatientInnen dieses Problem an (4). Durchfall unter ART tritt hauptsächlich nach der Einnahme von Proteasehemmern, bzw. im Anschluss an eine Mahlzeit nach der Medikamenteneinnahme auf. (v.a. bei Saquinavir [Invirase], Fosamprenavir [Telzir], Lopinavir [Kaletra]; weniger Atazanavir [Reyataz] und Darunavir [Prezista]). Die Wirkung aller PIs wird normalerweise mit Ritonavir (Norvir) verstärkt ("geboosted"), und auch Ritonavir kann, je nach Dosierung, Duchfall verursachen.
Auch andere Medikamente, vor allem Antibiotika und Chemotherapien, aber besonders auch Infektionen der Magen-Darmregion können zu Durchfall führen.
Andauernder Durchfall ist, ebenso wie Erbrechen, grundsätzlich mit Flüssigkeits- und Nährstoffverlust verbunden. Wenn das Problem anhält, müssen deshalb Flüssigkeit und Nährstoffe ergänzt werden. Ausserdem muss kontrolliert werden, ob die ART-Medikamentenspiegel aufgrund von Durchfall oder Erbrechen beeinflusst werden. Wenn man im Zusammenhang mit diesen Symptomen ungewollt und merklich Gewicht verliert, ist das immer ein Alarmsignal und sollte mit dem Arzt besprochen werden.
Durchfall kann in vielen Fällen durch eine Anpassung der Ernährungsgewohnheiten vermindert werden. Zum Beispiel, indem die HIV-Medikamente, bei denen dies möglich ist (alle PIs in Tablettenform; nicht Fosamprenavir-Saft), zusammen mit einer kleinen Mahlzeit eingenommen werden statt auf nüchternen Magen. Ausserdem sollte auf Speisen wie Sauerkraut, Pflaumen und künstliche Süssstoffe verzichtet werden. Auch die bewährten Hausmittel (zerdrückte Bananen und geraffelte Äpfel) helfen in vielen Fällen. Generell hilft weniger fettige Ernährung Probleme mit Durchfall zu vermeiden. Durchfälle, die von Proteasehemmern herrühren, konnten in vielen Fällen mit Kalziumgabe vermindert werden. (6)
Nützen die Hausmittel nichts, sind diverse rezeptfreie und rezeptpflichtige Medikamente verfügbar, welche die Darmschleimhaut beruhigen, die Darmbewegung hemmen, oder die Stoffaufnahme im Darm verlangsamen können. In schweren Fällen kann zu Loperamid oder zu Opiumtinktur gegriffen werden, die beide stark stuhlhemmend wirken. Beide sind rezeptpflichtig.
Nach einem Durchfall kann der Wiederaufbau der Darmflora durch probiotische Nahrung (z.B. Hefepräparate) unterstützt werden.
Übelkeit und Erbrechen
Übelkeit und Erbrechen sind generell verbreitete Beschwerden und sie können die unterschiedlichsten Ursachen haben. Dazu gehören auch antiretrovirale Medikamente. Mehr als ein Drittel der PatientInnen, die mit einer HIV-Therapie beginnen, leiden vorübergehend an mehr oder weniger starker Übelkeit, die oft mit Erbrechen verbunden ist. Diese unangenehme und belastende Nebenwirkung dauert in den meisten Fällen nicht länger als einige Wochen bis Monate, dann passt sich der Körper den Wirkstoffen an.(2) Man geht auch hier davon aus, dass nicht der antivirale Effekt der HIV-Medikamente diese Nebenwirkungen hervorruft, sondern ihre chemische Wirkung auf die Magenschleimhaut. Und auch für diese Nebenwirkungen sind hauptsächlich einige Ritonavir-verstärkte Proteasehemmer bekannt (v.a. Lopinavir und Fosamprenavir, weniger Atazanavir, Darunavir, Saquinavir). Unter den nukleosidalen Hemmern der reversen Transkriptase (NRTI) ist besonders Zidovudine für diesen Effekt bekannt.
Übelkeit und besonders fortdauerndes Erbrechen müssen in der Phase des Therapiebeginns sorgfältig beobachtet werden. Wichtig ist, festzustellen, ob diese Erscheinungen in der Tat von den HIV-Medikamenten herrührt, oder ob es andere medizinische Probleme gibt. Je nachdem können passende Massnahmen ergriffen werden. Medizinisch gesehen gilt für Übelkeit und Erbrechen generell, dass ein Arztbesuch immer angezeigt ist, wenn die Beschwerden nicht innert ein bis zwei Tagen vorübergehen.
Hausmittel wie Ingwer, Kamille, feuchtwarme Bauchumschläge, Schonkost sind für ihre wohltuende Wirkung bekannt. In schwereren Fällen können auch Medikamente angewendet werden. Domperidon (z.B. Motilium) und Metoclopramid (z.B. Paspertin) wirken fördernd auf die Bewegung des Magen- Darmtraktes, Dimenhydrinat (z.B. Vomex) und so genannte Neuroleptika wie Promethazin (Atosil) wirken auf das Gehirn.
Sodbrennen
Bei erwachsenen Menschen ist das charakteristische, saure Aufstossen im Bereich hinter dem Brustbein unabhängig von einer HIV-Therapie ein relativ verbreitetes Problem. Im Unterschied zur Übelkeit ist Sodbrennen in indirekter Effekt von ART-Medikamenten. Es kann z.B. bei fortdauernder Übelkeit und Erbrechen als Nebenerscheinung auftreten. Der Grund ist ein unvollständiger Verschluss der Magenpforte (Kardia) in Richtung Speiseröhre (Kardiainsuffizient). Dies kann verschiedene Ursachen haben und bedingt bei chronischem Auftreten eine genauere medizinische Abklärung.
Sodbrennen hat aber häufiger mit falscher Ernährung zu tun. Ein Übermass an fettigem Essen, Schokolade und anderen Süssigkeiten, sowie Alkohol (v.a. Weisswein) und Nikotin können das Schliessvermögen der Magenpforte vermindern. Auch Pfefferminztee hat grundsätzlich diesen Effekt. Starkes Übergewicht, bzw. zu reichhaltiges Essen kann ausserdem das Schliessvermögen der Kardia übersteigen.
Da der chronische Rückfluss von Magenflüssigkeit in die Speiseröhren langfristig zu Entzündungen und sogar zu Karzinomen führen kann, muss dieses Problem rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Entweder werden dazu Säureregulatoren eingesetzt (Omeprazol, Cimetidin, Famutidin) oder Mittel zur Förderung der Darmaktivität (Domperidon, Metoclopramid).
Der Einsatz von Säureregulatoren kann Auswirkungen auf die ART-Wirkstoffe haben, speziell beim Einsatz von Atazanavir. Mit diesem Medikament dürfen keine Säurehemmer eingenommen werden. Die anderen ART-Wirkstoffe können dagegen, mit genügendem Zeitabstand zu Säurehemmern, eingenommen werden.
Magenschmerzen (Gastritis)
Die Gastritis ist eine Entzündung der Magenschleimhaut und diese kann durch Medikamente, auch durch eine HIV-Therapie, verursacht sein. Gastritits geht typischerweise einher mit Brennen, Stechen, Übelkeit, Krämpfen, oder dumpfe Schmerzen und Völlegefühl. Gastritis kann, wie Sodbrennen, durch Säureregulatoren bekämpft werden. Wie oben erwähnt gilt auch hier, dass die Einnahme entsprechender Gegenmittel in jedem Fall mit einer HIV-Therapie abgestimmt werden muss.
Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Brenchley JM, Schacker TW, Ruff LE et al., «CD4+ T cell depletion during all stages in HIV disease occurs predominantly in the gastrointestinal tract», in Journal of Experimental Medicine, Sept. 2004, 6(200), S. 749–59; Kotler DP, «HIV infection and the gastrointestinal tract», in AIDS, 2005, 19(2), S. 107–17.
(2) Trottier B, Walmsley S, Reynes J et al., «Safety of enfuvirtide in combination with an optimized background of antiretrovirals in treatment-experienced HIV-1-infected adults over 48 weeks», in JAIDS, 2005, 40(4), S. 413–21.
(3) Hill A, Balkin A, «Risk Factors for Gastrointestinal Adverse Events in HIV Treated and Untreated Patiens», in AIDS Reviews, 2009, 11(1), 30–38; Guest JL, Ruffin C, Tschampa JM et al, «Differences in Rates of Diarrhea in Patients with Human Immunodeficiency Virus Receiving Lopinavir-Ritonavir or Nelfinavir», in Pharmacotherapy, 2004, 24(6), S. 727–35.
(4) O’Brien M, Clark R, Besch C et al., «Patterns and correlates of discontinuation of the initial HAART regimen in an urban outpatient cohort», JAIDS, 2003, 34(4), S. 407–14.
(5) Heath KV, Singer J, O’Shaughnessy, MV et al., «Intentional Nonadherence Due to Adverse Symptoms Associated With Antiretroviral Therapy», in JAIDS, Okt. 2002, 31(2), S. 211–17; Siddiqui U, Bini EJ, Chandarana K et al., «Prevalence and Impact of Diarrhea in the Era of Highly Active Antiretroviral Therapy», in Journal of Clinical Gastroenterology, 2007, 41(5), S. 484–90.
(6) Keiser O, Fellay J, Opravil M et al., «Adverse events to antiretrovirals in the Swiss HIV Cohort Study: effect on mortality and treatment modification», in Antiviral Therapy, 2007, 12(8), S. 1157–1164.
(7) Bonfanti P, Valsecchi L, Parazzini F, «Incidence of Adverse Reactions in HIV Patients Treated With Protease Inhibitors: A Cohort Study», in JAIDS, März 2000, 23(3), S. 236–45.
(8) «Magen-Darm- und Leberbeschwerden – Nebenwirkung der HIV-Therapie», MEDINFO Medizinische Informationen zu HIV und AIDS, Nr. 73, Hg. Aidshilfe Köln 2010, www.hiv-med-info.de. Die Deutsche Aidshilfe führt eine Website, die eine Reihe wertvoller Informationen zum Umgang mit Magen-Darm-Beschwerden enthält: www.hiv-wechselwirkungen.de.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Swiss Aids News 2, Juni 2011, www.aids.ch
Seite 29 von 32