Aktuell

Als Chemsex (auch bekannt unter «Party and Play» mit dem Kürzel PNP) bezeichnet man eine Erscheinung der MSM-Subkultur, bei der es um Sex unter dem Einfluss von psychoaktiven Drogen geht. In einigen Londoner Stadtteilen wie Lambeth, Southwark und Lewisham wurde dies im Rahmen der Chemsex-Studie erstmals eingehend untersucht 1.

Ähnliche Chemsex-Szenen gibt es auch in anderen europäischen Grossstädten; sie sind allerdings weniger gut dokumentiert als jene von London. Chemsex findet beispielsweise in Sexclubs, Saunas, Darkrooms aber auch — nach Verabredung via Datingplattformen — im privaten Rahmen statt. Smartphone Apps erleichtern dabei die Kontaktaufnahme und gleichzeitig auch den Vertrieb der Drogen. Die Teilnehmer sind zwischen 20 und 60 Jahre alte MSM. Am stärksten vertreten ist die Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen.

Stimulierende und enthemmende Substanzen

In den meisten Fällen kommen psychoaktiven Drogen wie Chrystal Meth (Methamphetamin), GHB/GBL (-Hydroxybuttersäure bzw. -Butyrolacton), Mephedron 2 (4-Methylmethcathinon) und in geringerem Ausmass auch Kokain und Ketamin zur Anwendung. Diese Substanzen sind alle – bis auf Ketamin – stimulierend, erhöhen den Blutdruck, beschleunigen die Herzfrequenz und lösen euphorische und enthemmende Gefühle aus. Bei einigen Personen führen sie auch zu einer verstärkten sexuellen Erregung einhergehend mit erhöhter Risikobereitschaft. Unter dem Einfluss dieser enthemmenden Drogen kommt es oft zu ungeschütztem Sex, auch mit wechselnden Partnern, der oft Stunden oder gar ganze Wochenenden dauern kann. Da diese Substanzen eher erektionshemmend wirken, werden zusätzlich Potenzmittel wie Viagra eingenommen. Poppers 3. sind in diesem Umfeld bereits zur (eher harmlosen) Standarddroge geworden, daher werden sie in der genannten Studie gar nicht erst erwähnt.

Folgen für Körper, Seele und das (Liebes-)Leben

Der regelmässige Konsum von psychoaktiven Drogen führt zu irreversiblen somatischen und psychischen Schäden. Durch die enthemmende Wirkung der Substanzen steigt auch das Übertragungsrisiko von HIV und Hepatitis C sowie anderer sexuell übertragbarer Infektionen. Zudem besteht die Gefahr der Überdosierung (auch beim Mischen verschiedener Drogen), der Abhängigkeit sowie weiterer negativer Folgeschäden für die Gesundheit. Das Spektrum reicht von körperlichen, seelischen, sozialen und beziehungsbezogenen Problemen, die sich ungünstig auf die soziale Bindungsfähigkeit und die Beziehungsdynamik im Privatleben und sogar im Berufsleben auswirken können. Häufig kommt es zu Depressionen, Paranoia, Angstzuständen, Aggressionen, Panikattacken, Krämpfen und Bewusstseinsverlusten. Leider gab es bereits einige Todesfälle. Mit dem Phänomen geht ein weitverbreiteter Markt für die Herstellung und den Vertrieb dieser, in den meisten Ländern verbotener Substanzen einher. Die Tatsache, dass deren Qualität und Reinheit oft zweifelhaft sind, birgt zusätzliche Risiken für die Anwender.
Wer sich an Drogenkonsum beim Sex gewöhnt hat, kann Sex nicht mehr anders geniessen. Sex unter psychoaktiven Drogen wird bei einigen zu einem triebgesteuerten Abreagieren statt kopf-gesteuertem, lustvollem und gemeinsamem Geniessen. Wenn man die Drogen absetzt, dauert es bis zu einem Jahr inklusive Psychotherapie, um wieder einigermassen normalen Geschlechtsverkehr haben zu können.
Während gewisse Berichte von einer Zeitbombe sprechen, mahnen andere zur Mässigung und warnen vor Panikmache. Es gibt bereits Hinweise, dass Chemsex wie bei jedem unsafen Sex-Verhalten zu einem erneuten Anstieg der HIV-Infektionen bei den MSM führen könnte. Zudem befürchtet man, dass die Betroffenen auf die Dauer ihr Leben ruinieren könnten. Eine Zunahme der HIV-HCV Ko-Infektionen wurde bereits festgestellt: Bei den HIV-Infizierten in London sind 7 Prozent koinfiziert 4. Die PrEP bietet zwar einen Schutz gegen eine HIV-Ansteckung, nicht jedoch gegen HCV und andere sexuell übertragbaren Krankheiten.

Metropolen sind Hotspots

Obwohl Chemsex – vor allem unter Crystal-Meth und Mephedron – anfänglich vor allem in London verbreitet war, haben sich entsprechende Szenen auch in anderen Grossstädten Europas mit ausgeprägter Gaykultur etabliert, so auch in der Schweiz. Gemäss einer Studie der Deutschen AIDS-Hilfe5 liegt Zürich beim Konsum von GBL/GHB, Ketamin, Methedron oder Crystal Meth im Mittelfeld europäischer Grossstädte (in abnehmender Reihenfolge):

  1. Manchester
  2. London
  3. Amsterdam
  4. Barcelona
  5. Zürich
  6. Madrid
  7. Berlin
  8. Paris
  9. Brüssel
  10. Köln/Bonn
  11. Wien
  12. Rom

Beim Kokainkonsum liegt Zürich an dritter Stelle hinter Antwerpen und Amsterdam, Basel und Genf liegen auf den Rängen 9 und 10. Auch Ecstasy wird in der Schweiz häufig konsumiert, wogegen Amphetamine und Crystal Meth eher gemieden werden6. Gemäss der britischen Studie ist der Konsum bei privaten Sexpartys zwei- bis viermal höher als bei öffentlichen Sexpartys1. Die Studie präzisiert allerdings nicht, wo welche Drogen zur Anwendung gelangen. Messungen im Abwasser einer Agglomeration geben heute Aufschluss über den Verbrauch psychoaktiver Substanzen in der betreffenden Stadt 7. Bei den Messreihen ist bei Ecstasy am Wochenende gegenüber den übrigen Wochentagen ein Anstieg um einen Faktor 4 zu erkennen. Bei Crystal Meth beispielsweise liegt in der Schweiz erstaunlicherweise die Region Neuenburg an erster Stelle, gefolgt von den Städten Zürich, Basel, Bern, Winterthur, St. Gallen und Lausanne 8.

Chemsex wird zum «State of the Art»

Beim sozio-psychologischen Background spielen sicher Vereinsamung und ein vermindertes Selbstwertgefühl eine gewisse Rolle. Oftmals gehen auch internalisierte Homophobie und ein ausgeprägtes, unkontrolliertes Suchtverhalten – auch im Bezug auf Alkohol und Tabak – einher. Dies treibt viele Schwule zu diesen Treffen mit anonymen Sexkontakten und oft in eine Drogenabhängigkeit, aus der sie sich ohne fremde Hilfe nicht mehr befreien können. Problematisch ist wohl, dass bei diesen Sexpartys Chemsex zum «State of the Art» wird und der Gruppendruck die Teilnehmer zum Drogenkonsum drängt. Weitere Ursachen sind wohl die leider immer noch vorhandene Ausgrenzung von Schwulen durch die Gesellschaft aber auch eine Veränderung der Gaykultur. Früher kam es in Gay-Bars und -Clubs häufiger zu menschlichen Begegnungen, man sprach miteinander und erst danach ging es — sofern Anforderungen und Profile sich einigermassen deckten — zur Sache. Heute geht es in Saunas, Darkrooms und Sexclubs zuerst anonym und triebgesteuert zur Sache. Die psychoaktiven Drogen verhindern, dass es danach noch zu einer menschlichen Begegnung kommt, obwohl im Grunde genommen die meisten genau das suchen.

Effekt ist langfristig nicht «befriedigend»

Die Chemsex-Studie schildert eindrücklich die Auswirkungen für die Anwender: «Ein grosser Teil der Männer litt unter Problemen im Hinblick auf ihr Selbstwertgefühl oder das sexuelle Selbstvertrauen und berichteten, dass sie diese Probleme mit Drogen überwinden (oder zumindest verdecken) können. Während die meisten Teilnehmer angaben, dass Drogen die sexuelle Erregung oder die Lust steigern können, erklärten einige, dass sie regelmässig auf solche Drogen zugreifen, weil sie es als schwierig oder unmöglich empfinden ohne diese Drogen Sex zu haben 9.» Gemäss der Untersuchung könnten Drogen ein intensiveres sexuelles Erlebnis und die Möglichkeit schaffen, mit einem anderen Menschen in Verbindung zu treten, wenngleich dieser Effekt häufig nur von kurzer Dauer sei. Zudem ermögliche der Drogenkonsum auch längere sexuelle Begegnungen, so dass Sex mit mehreren Männern oder über einen längeren Zeitraum hinweg sowie vielseitigerer oder gewagterer Sex möglich sei. Diejenigen Studienteilnehmer, die sich für die Injektion von Drogen, insbesondere Crystal Meth entschieden hatten, gaben an, dass diese Art des Konsums zu noch extremerem Sex führe als eine andere Form der Verabreichung. In der Studie wird aber auch die Kehrseite von Chemsex ersichtlich: «Während die meisten Teilnehmer das Gefühl von sexuellem Abenteuer schätzten, äusserten sich einige Männer besorgt darüber, dass sie ihre eigenen sexuellen Grenzen überschritten haben könnten und sie bereuten dieses Verhalten. Obgleich Drogen das sexuelle Erleben auf vielfältige Weise steigern konnten, gab die Mehrheit der Männer an, mit ihrem Sexleben nicht zufrieden zu sein. Viele wünschten sich einen langfristigen Partner für intimeren und emotional verbundeneren Sex und waren der Ansicht, dass Drogenkonsum oder ein enger Kontakt zu sozialen Netzwerken von Männern, die Chemsex vollziehen, nicht dazu führen werde 9.»

Praktische Ansätze zur Prävention

Es ist notwendig, dass Anwender von Chemsex über die Folgen aufgeklärt werden. Die Studienautoren empfehlen jedoch, auf eine soziale Marketingkampagne über die Gefahren von Chemsex (weder in Lambeth, Southwark, Lewisham noch in London oder landesweit) zu verzichten9. Nur wenige der Anforderungen, die in diesem Projekt offengelegt wurden, liessen sich über einen sozialen Marketingansatz erfüllen. Stattdessen hebt die Analyse eine Reihe von allgemeinen politischen und praktischen Ansätzen der Prävention hervor:

  1. Wir empfehlen die Produktion und Verteilung von verschiedenen Informationsquellen zur Harm Reduction bei Drogenkonsum.
  2. Wir empfehlen die Sicherstellung des Zugangs zu schwulenfreundlichen Drogen- und Sexualberatungsstellen für schwule Männer. Diese sollten Kompetenzen im Umgang mit psychosozialen Aspekten ihrer Gesundheit sowie mit den Folgeschäden von Chemsex haben.
  3. Wir empfehlen die koordinierte Zusammenarbeit mit Managern von Sex-Clubs zur Erarbeitung von eindeutigen schadensbegrenzenden Richtlinien und Vorgehensweisen.
  4. Wir empfehlen die koordinierte Zusammenarbeit (auf lokaler, landesweiter und internationaler Ebene) mit Unternehmen und Schwulenmedien (darunter auch die, die soziale Netzwerk-Apps und Webseiten zur Verfügung stellen), um Möglichkeiten der Gesundheitsförderung und Schadensreduzierung im Rahmen der unternehmerischen Verantwortung gegenüber den Nutzern zu erörtern.

Angebote

Ein hervorragendes niederschwelliges Angebot an medizinischer Beratung und Unterstützung wird in London angeboten. Das Chelsea and Westminster Hospital offeriert im Auftrag des NHS Foundation Trust an der Dean Street 56 im Londoner Stadtteil Soho einen medizinischen und psychosozial Dienst unter dem Namen Dean Street Express [Link : http://www.chelwest.nhs.uk/services/hiv-sexual-health/clinics/dean-street-express]:

«Dean Street Express is designed for people without symptoms wanting a check-up for sexually transmitted infections. The service — based in Soho — uses the latest technology to give you rapid results. You need to reserve a timeslot to use this service. Dean Street Express is suitable for you if are symptom-free (haven't noticed anything wrong), don't need treatment or just want a routine sexual health check-up.»

Zudem gibt es mehrere erläuternde Video-Clips [Link http://dean.st/films/] zum Thema Chemsex.

In Zürich gibt es die Möglichkeit, die Drogen im Drogeninformationszentrum (DIZ) [Link http://saferparty.ch/diz.html] testen zu lassen sowie das gayfriendly Beratungsangebot von ARUD (http://www.arud.ch/) zu nutzen. Das DIZ mit seinem ausführlichen Harm Reduction Programme publiziert auf seiner Web-Seite (Link http://saferparty.ch/warnungen.html) eine regelmässig aktualisierte Liste der in der Szene angebotenen psychoaktiven Drogen. Diese enthält eine Abbildung der jeweiligen Pille (Angabe von Farbe, Form und Grösse) und gibt Auskunft zu Inhalt und Dosierung der entsprechenden Substanz. Dabei wird insbesondere auf die Nebenwirkungen hingewiesen, die bei Überdosierung auftreten. Diese Liste enthält vor allem jene Pillen, die ein hohes Konsumrisiko darstellen und daher nicht eingenommen werden sollten. Sie dient als Warnung, falls Pillen dieser Art auf einer Party angeboten werden.

Hansruedi Voelkle / Oktober 2016

1 Siehe: http://sigmaresearch.org.uk/files/report2014b.pdf Eine deutsche Übersetzung durch die Deutsche AIDS-Hilfe gibt es unter: http://www.hivreport.de/sites/default/files/ausgaben/2014_03_HIV%20report.pdf
2 Mephedron ist eine «englische» Erscheinung und wird ausserhalb Englands kaum verwendet
3 Poppers bestehen aus Amylnitrit, Isopropylnitrit, Cyclohexylnitrit oder Mischungen daraus. Sie haben eine stark gefässerweiternde Wirkung (Vasodilatation) Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Poppers
4 Sex an hepatitis C, A guide vor healtcare providers. http://www.chelwest.nhs.uk/services/hiv-sexual-health/professionals/links/ChemSex-Hep-C-Guide.pdf 
5 Deutsche AIDS-Hilfe: HIVreport.de: Drogenkonsum bei MSM in Deutschland 
6 Tagesanzeiger vom 28.5.2014
7 Siehe : http://www.eawag.ch/fileadmin/Domain1/News/2014/0527/mm_drogen-abwasser_d.pdf
http://www.rts.ch/info/regions/neuchatel/7667119--la-crystal-meth-est-une-bombe-a-retardement-selon-olivier-gueniat.html
9 Einige Folgerungen aus der deutschen Übersetzung der Chemsex-Study.

In Frankreich wird die PrEP seit Anfang Jahr verschrieben und die Kosten dafür werden übernommen. In England möchte man auch gern, doch das System ist auf Schleuderkurs. Die europäische Medikamentenagentur EMA hat Truvada für den präventiven Einsatz im Juli zugelassen. In der Schweiz geschieht derweil nicht viel – ausser dass immer häufiger eine PrEP verschrieben wird.

Wir haben in der Vergangenheit bereits mehrmals über die PrEP berichtet. Soweit der Schreiber sich erinnern kann, gab es in der HIV-Geschichte kaum ein Thema, welches über so lange Zeit derart kontrovers diskutiert wurde. An der aus Studien gewonnenen Evidenz kann es nicht liegen. Möglicherweise überwiegt jedoch in Sachen PrEP die Angst oder das Gefühl «nicht das Richtige zu tun». Vor der Konferenz in Glasgow im Oktober blicken wir auf die wichtigsten Ereignisse in diesem Jahr zurück.

CROI 2016: Resistenzen führen zu einem Versagen der PrEP
Ein erster Fall von PrEP-Versagen wurde im Februar 2016 an der CROI in Boston publik. Die Fallstudie berichtet von einem Mann aus Toronto, welcher seit zwei Jahren lang eine PrEP einnahm. Als er damit anfing, war er mit einem HIV-positiven Mann zusammen, der dank seiner Therapie eine nicht nachweisbare Viruslast hatte. Er hatte aber ausserhalb seiner festen Beziehung weitere sexuelle Kontakte mit ungeschütztem Analverkehr. Trotz seiner PrEP hat sich dieser Mann mit einem mehrfach resistenten HI-Virus angesteckt.

Zwei Jahre nach Einleiten der PrEP hatte der Mann nach einer Periode mit vielen Risikokontakten plötzlich Symptome und es wurde eine akute HIV-Infektion festgestellt. Die gemessene Viruslast war aber mit 28'000 Kopien/ml eher tief – ein Hinweis, dass die PrEP zwar die Virusvermehrung unterdrückt, jedoch offenbar die Ansteckung nicht verhindern konnte. Es kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass der Patient bei der Ansteckung eine «Adhärenz-Lücke» hatte. Der Patient selbst ist sich aber sicher, die Prophylaxe immer genommen zu haben.

Das Virus des Patienten ist resistent gegen Nicht-Nukleosidanaloga (NNRTI), Nukleosidanaloga der ersten Generation (NRTI) sowie gegen Integraseinhibitoren. Die Übertragung von Resistenzen gegen Integraseinhibitoren wird nur sehr selten beobachtet. Der Patient erhielt eine Therapie aus drei Medikamentenklassen und innert drei Wochen war die Virenlast unterhalb der Nachweisgrenze. Seine Therapie wurde später vereinfacht.

Der beschriebene Fall ist nicht absolut überzeugend – dafür hätte man Blutproben vom Zeitpunkt der Ansteckung untersuchen müssen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber recht gross, dass wir hier einen der ersten dokumentierten Fälle einer Ansteckung trotz guter PrEP-Adhärenz haben. Wir können weitere solche Fälle nicht ausschliessen. Da aber heute zehntausende Menschen eine PrEP einnehmen, ist die Wahrscheinlichkeit eines wiederholten PrEP-Versagens nicht gerade gross. 1

Frankreich prescht vor – in England holperts
Wie bereits berichtet, übernimmt das französische Gesundheitssystem die PrEP seit dem 1. Januar 2016. Eigentlich sollte man in England auch soweit sein – schliesslich wurde die PROUD-Studie ebenfalls im Vereinigten Königreich durchgeführt. Es zeigen sich hier jedoch die Eigentümlichkeiten des englischen Systems.

Das egalitäre System in Frankreich lässt es nicht zu, dass eine erprobte Behandlungsmethode nicht für alle Patienten verfügbar ist. In England sieht man das offenbar anders. Hier gab es Befürchtungen, dass schwule Männer promisker würden, wenn man ihnen eine PrEP bezahlen würde. Gleichzeitig sorgte man sich um Kinder mit zystischer Fibrose, weil diese aus Kostengründen ihre Medikamente nicht mehr erhalten könnten und folglich unter Atembeschwerden leiden müssten.

Das Budget des National Health Service (NHS) ist beschränkt. Der NHS wollte deshalb die Kosten für die PrEP auf die lokalen Behörden abwälzen. Diese weigerten sich aber – mit der Begründung sie hätten kein Geld. Der National AIDS Trust (NAT) ging deswegen vor Gericht und der NHS verlor den Fall. Gegen diese Entscheidung will der NHS rekurrieren, doch der Rekurs könnte scheitern. In diesem Fall muss sich der NHS vorsehen, denn es müssten unpopuläre Entscheidungen gefällt werden. Im Juni begründete der NHS-Chef seine Haltung mit der fehlenden Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA (diese erfolgte am 22. Juli) sowie einem fehlenden Nachweis über die Kosteneffizienz durch die britische Arzneimittel-Behörde NICE.

Mit Blick auf die Behandlungskosten errechnet der NAT, dass sich der NHS durch seine Haltung täglich 2,88 Millionen Pfund zusätzliche Therapiekosten aufbürdet anstatt 4'800 Pfund pro Person und Jahr für eine PrEP auszugeben. Im Jahr 2014 hat sich in England eine Rekordzahl von 2'800 schwuler Männer mit HIV angesteckt – das sind acht pro Tag. Doch der NHS behauptet tapfer, man hätte kein Geld um den geschätzten 10'000 bis 15'000 Männern eine PrEP zu ermöglichen. Und so fliegt der Ball hin und her.

Mittlerweile übernimmt Gilead die PrEP-Kosten für die PROUD-Studienteilnehmer bis eine Lösung gefunden ist.


Erfolg in San Francisco
Neue Zahlen aus San Francisco zeigen, dass die Stadt mit ihrer Doppelstrategie der sofortigen Therapie bei Diagnose und PrEP bei Risikoverhalten gut unterwegs ist. Der am 1. September 2016 publizierte «HIV Epidemiology Annual Report 2015» zeigt eine deutliche Abnahme der Neuansteckungen in der Stadt an der US-Westküste. Seit 2012 (Einführung der PrEP in den USA) zeigt die Kurve besonders deutlich nach unten 2: Wurden 2012 noch 453 Neuansteckungen gemessen, sank die Zahl bis 2015 um fast die Hälfte (255).

Was läuft in der Schweiz?
Es gibt mehr und mehr Ärzte, die eine PrEP verschreiben – an den grossen Universitätskliniken sowie in den Checkpoints gleichermassen. Sparsame Patienten beziehen die Medikamente in Indien oder Frankreich.

Eine Zulassung durch Swissmedic steht aus. Wir haben die Firma Gilead diesbezüglich angefragt und warten nun auf die Antwort. Die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit empfiehlt den Einsatz einer PrEP in gewissen Situationen 3. Angesichts des bevorstehenden Patentverlustes von Gilead sollte in puncto Kosten eine Vereinbarung mit dem BAG möglich sein. Das Räuspern im BAG ist vernehmlich negativ und die Aids-Hilfe Schweiz schweigt vielsagend.

Für den Positivrat ist die Lage unbefriedigend. Zum ersten wird eine Post-Expositionsprophylaxe auch übernommen. Zum zweiten sollte der Zugang zu einer wirksamen Intervention für alle möglich sein und kein Privileg darstellen. Die Diskussion um Kostenübernahme muss darum auch in der Schweiz geführt werden.

Siehe dazu auch die Position der Positivrates Schweiz

 

David Haerry / September 2016

1 Knox DC et al. HIV-1 Infection with Multiclass Resistance despite Pre-exposure Prophylaxis (PrEP). Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections, Boston, abstract 169aLB, 2016
2 https://www.sfdph.org/dph/files/reports/RptsHIVAIDS/AnnualReport2015-20160831.pdf
3 Seit 29. Januar 2016, siehe www.bag.admin.ch/hiv_aids/05464/12752/

Erfolgsmeldungen über medizinische Erkenntnisse rund um HIV sind wir uns seit ein paar Jahren gewöhnt. Wer unter wirksamer Therapie ist, ist nicht infektiös und kann gefahrlos ungeschützten Sex praktizieren und Kinder zeugen. Es gibt die Pille, um sich vor einer HIV-Übertragung zu schützen. Die ist zwar in der Schweiz noch nicht zugelassen, doch wird in ein paar Jahren die medikamentöse Prävention genauso normal sein, wie die Anti-Baby-Pille und jedem Individuum ist es selbst überlassen, auf welche Art und Weise es sich vor HIV schützen möchte. Dank hervorragender medizinischer Versorgung und Therapietreue der Patienten ist auch das Risiko einer Resistenzentwicklung laut einer neuesten Studie in der Schweiz vernachlässigbar.

So weit, so gut, doch wie steht es mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit HIV? Werden wir noch immer stigmatisiert und diskriminiert? Müssen wir auch 2016 noch befürchten, am Arbeitsplatz Nachteilen ausgesetzt zu werden oder gar die Stelle zu verlieren, wenn wir unsere HIV-Infektion den Kollegen mitteilen? Sind wir von Privatversicherungen ausgeschlossen oder können wir uns und unsere Angehörigen für die Zukunft oder den Erwerb eines Eigenheims absichern?

Wir haben uns die Diskriminierungsmeldungen der Aids-Hilfe Schweiz aus dem Jahr 2015 1 angesehen und müssen feststellen, dass in vielen Köpfen noch immer Vorurteile und Ängste herumgeistern. So herrschte beispielsweise in einer Schulzahnarztpraxis Aufruhr, weil eine Schülerin auf dem Formular angegeben hatte, dass sie HIV-positiv ist. Das Personal war mit der Situation überfordert und hatte Angst vor einer Ansteckung.
Die Bereiche, in denen Diskriminierungen vorkommen, haben sich über die Jahre nicht sehr verändert. So sind noch immer Vorfälle am Arbeitsplatz, Benachteiligungen gegenüber Versicherungen sowie Datenschutzverletzungen die am stärksten betroffenen Gebiete. Immerhin scheint inzwischen auch bis zu den Strafverfolgungsbehörden durchgedrungen zu sein, dass HIV-Positive unter wirksamer Therapie das Virus nicht übertragen und deshalb nicht mehr wegen versuchter schwerer Körperverletzung angeklagt werden können. Seit dem 1. Januar 2016 ist nun auch das revidierte Epidemiengesetz in Kraft, sodass heute niemand mehr befürchten muss, wegen Verbreitens einer gefährlichen menschlichen Krankheit vor Gericht gezogen zu werden.

Fast die Hälfte aller Diskriminierungsfälle betrifft Versicherungen, sowohl Sozial- als auch Privatversicherungen. Im Bereich der Sozialversicherungen sind es vor allem Krankenversicherungen, welche sich weigern, gewisse Kosten zu übernehmen. Darunter fällt die Übernahme der antiretroviralen Therapie, wenn ein Versicherter beispielsweise wegen nicht bezahlter Prämien auf einer schwarzen Liste erscheint. In einem anderen Fall weigerte sich die Versicherung, die Kosten einer PEP zu übernehmen, obschon diese klar im Leistungskatalog des Bundesamtes für Gesundheit aufgeführt ist. Die Rechtsabteilung der Aids-Hilfe Schweiz unterstützt die Klienten in solchen Fällen erfolgreich mit Interventionen bei den Versicherungen oder zieht die Fälle weiter und verhilft so den Benachteiligten zu ihrem Recht.
Bei den Privatversicherungen waren es hauptsächlich Einzeltaggeldversicherungen, welche infolge einer vorbestehenden Krankheit nicht abgeschlossen werden konnten. Zudem gab es verschiedene Fälle von Blankovollmachten, welche die Versicherten für die Abklärung eines Leistungsfalles erteilen mussten. Diese Vollmachten gehen zu weit und können eingeschränkt werden. Auch in diesen Fällen unterstützt die Aids-Hilfe Schweiz die Klienten mit entsprechender Beratung und Musterbriefen.

Auch im Gesundheitswesen kommen Diskriminierungen vor. Diese betreffen in den meisten Fällen den Datenschutz. So wurde auch letztes Jahr in verschiedenen Fällen die HIV-Diagnose bei Überweisungen weitergegeben. Häufig berufen sich die Ärzte darauf, dass die Stellen, an welche die Patienten überwiesen werden, ebenfalls unter dem Arztgeheimnis stünden doch ändert das nichts daran, dass eine Diagnose nur dann weitergegeben werden darf, wenn die vorgesehene Untersuchung oder Behandlung im Zusammenhang mit der HIV-Infektion steht. In allen anderen Fällen ist die HIV-Diagnose nicht von Belang. Auch nicht wegen allfälliger Interaktionsrisiken der Arzneimittel. Um diese auszuschliessen kann der Patient oder die Patientin den HIV-Spezialisten befragen.
Ein besonders beklagenswerter Fall betraf eine Bewohnerin eines Pflegeheimes, welche das Personal über die HIV-Infektion informiert hat. Die Diskriminierungen und Schikanen gingen so weit, dass man ihr die Hilfeleistung verweigerte, als sie im Heim zusammenbrach.

Verletzungen des Datenschutzes kamen aber auch im privaten Umfeld vor. So hat ein Freund einer Frau vor versammelter Runde an einer Geburtstagsfeier herumerzählt, sie habe Aids. Die Betroffene hat sich einen Anwalt genommen um sich gegen diese krasse Verletzung ihrer Persönlichkeit zu wehren. Auch die Verbreitung der HIV-Diagnose über soziale Medien kam in einigen Fällen vor.

Die Übersicht über die erfolgten Diskriminierungen im 2015 zeigt, dass sich die Themen und Fälle in den letzten Jahren kaum verändert haben. Menschen mit HIV werden noch immer benachteiligt, sei es am Arbeitsplatz, gegenüber Versicherungen, im Gesundheitsbereich oder ihr Recht auf Datenschutz wird verletzt. Es ist weiterhin notwendig, dass Arbeitgeber, Pflegepersonal in Spitälern oder in Heimen aufgeklärt werden. Und wir müssen erreichen, dass es keine Ausschlüsse aus Privatversicherungen mehr gibt. Aufatmen lässt sich einzig im Bereich des Strafrechts. Und es ist nicht mehr kategorisch ausgeschlossen, als Positiver eine Lebensversicherung abzuschliessen. Wer dies tun will, kann sich mit dem Positivrat in Verbindung setzen und wir vermitteln einen Versicherungsmakler unseres Vertrauens.

Eine Online-Broschüre der Aids-Hilfe Schweiz 2 gibt einen guten Überblick über die einzelnen Rechte und wie man bei einer Verletzung vorgehen muss.

Dominik Bachmann / Mai 2016

 

1 www.aids.ch/de/downloads/pdfs/Diskriminierungsmeldung_2015.pdf
2 shop.aids.ch/de/fuer-hiv-positive/rechtsratgeber-hiv

Im Juli 2016 fand die 21. Internationale Aids Konferenz mit ca. 18‘000 Teilnehmenden in Durban, Südafrika statt. Anders als vor 16 Jahren – als ein uneinsichtiger Präsident den Aids-Dissidenten glaubte und die Abgabe der antiretroviralen Therapie (ART) in Südafrikas Spitälern verbot – ist Südafrika heute stolz auf das grösste ART-Programm mit 3,4 Millionen Menschen, die daran teilnehmen.

Wissenschaftlich gab es wenig Aufregendes: Forschende berichten von mikrobiologischen Erkenntnissen, die Strategien zur Heilungs- und Impfforschung erleichtern, jedoch ohne konkrete und für Laien verständliche Resultate. Co-Infektionen mit TB, HCV und HBV sind stark präsent, PrEP ist in aller Munde; ebenso wie die ‚Test and Treat‘ Empfehlung der WHO, womit die Abgabe von ART nicht mehr an bestimmte CD4-Werte gekoppelt ist. Wer HIV-positiv getestet wurde, soll mit ART behandelt werden. Als Erfolg gilt, dass von den geschätzten 37 Mio. Menschen, die weltweit mit HIV leben, bereits 17 Mio. unter Therapie sind. Jedoch bleiben 20 Mio. ohne Zugang und die grosse Frage lautet: Wie soll das finanziert werden, wenn 13 von 14 Geberländern ihre Beiträge für den Globalen Fonds gekürzt haben? Wir hören immer wieder, dass Aids bis 2030 beendet werden soll. Ein Aktivist der Treatment Action Campaign TAC widerspricht dem vehement und fragt wütend, wie alle von „ending Aids“ sprechen können, wenn immer wieder der ARV-Nachschub fehlt und Menschen ihre Therapie unfreiwillig unterbrechen müssen?!

„Es ist an der Zeit, einzugestehen, dass etwas schrecklich falsch läuft“, erklärte Charlize Theron an der Eröffnungszeremonie. Obwohl alle notwendigen Instrumente vorhanden sind, um die weitere Ausbreitung von HIV zu verhindern - Kondome, PrEP, PEP, ART, Kenntnis der Übertragungswege wie man sich schützen kann – infizierten sich trotzdem 2015 weltweit 2.1 Mio. Menschen neu mit HIV. Für Charlize ist klar, warum es nicht gelingt, die Verbreitung von HIV zu stoppen: „Für uns sind bestimmte Leben wertvoller als andere, Männer wertvoller als Frauen, heterosexuelle Liebe ist wertvoller als homosexuelle. Weisse Haut ist wertvoller als dunkle, die Reichen wertvoller als die Armen, und Erwachsene wertvoller als Jugendliche.“ Und sie weist darauf hin, dass HIV von sich aus nicht diskriminiert, keine biologische Präferenzen hat für Körper von Farbigen, Frauen, Schwulen, jungen Mädchen oder von Armen, dass nicht HIV diese Auswahl trifft, sondern wir: „WIR suchen die Verletzlichen, Unterdrückten, und die Ausgebeuteten aus. Wir ignorieren sie, lassen sie leiden und an Aids sterben.“

Charlize Theron bringt auf den Punkt, warum dem so ist, und wer die Möglichkeit hat, dies zu ändern: Sie ruft die nächste Generation, die heutige Jugend auf, Aids zu beenden: „Ihr seid „Gen-end-it“! Und erklärt IT für alle unmissverständlich: „IT ist nicht einfach Aids, IT ist eine Kultur, die Vergewaltigung gutheisst und deren Opfer zu Schweigen und Scham verurteilt, IT ist der Kreislauf von Armut und Gewalt, der Mädchen zwangsverheiratet und sie zwingt, ihre Körper zu verkaufen, um ihre Familien zu versorgen. IT ist der Rassismus, der den Weissen und Mächtigen erlaubt, die Schwarzen und Armen auszubeuten und ihnen auch noch die Schuld zuschiebt an ihrem Leiden. IT ist die Homophobie, die LGBT-Jugend diskriminiert und isoliert und sie von lebenswichtiger Gesundheitsversorgung und Behandlung fernhält.“ Mit diesem Statement fasst Charlize zusammen, was wir nicht nur im Laufe dieser Konferenz – sondern schon über viele Jahre hin - immer wieder hörten: Im südlichen Afrika sind Mädchen zwischen 15 – 24 Jahren die am stärksten von HIV betroffene Gruppe. Omnipräsente Gender Ungleichheiten, Machtdynamiken, Opfer-Status‘ und Armut werden immer wieder aufgezählt als Gründe, warum Frauen keinen gleichberechtigten Zugang zu Rechtssprechung, Ressourcen, Erziehung und letztlich zu HIV-Prävention, Dienstleistungen und Behandlung haben.

Das Thema der Konferenz – Access Equity Rights Now - zielt direkt in ein zentrales Konferenzthema: Kriminalisierung von HIV, Sex Work, Homosexualität und intravenösem Drogengebrauch erschweren die Arbeit mit denjenigen, die am stärksten von HIV betroffen sind, und die zu schwach sind, sich zu wehren. Darum werden sie in zu vielen Ländern Opfer von kontraproduktiven Gesetzen. Justice Edwin Cameron bezeichnet Gesetze, die HIV, Homosexualität, Sexwork und Drogenkonsum kriminalisieren, als „devious and evil“ in seiner Jonathan Mann Lecture. Er würdigt die Aktivistinnen und Aktivisten, indem er sie auf die Bühne ruft: „Lasst uns diese Konferenz den Sexworkern, den Drogenkonsumierenden, den Migranten, den afrikanischen Männern, die Sex mit Männern haben, den Verletzlichen, den Armen und den Kindern widmen!“
Gerne schliesse ich mich Therons Schlussworten an: „ ... HIV wird nicht einfach nur durch Sex übertragen, sondern durch Sexismus, Rassismus, Armut und Homophobie. Und wenn wir Aids heilen wollen, dann müssen wir damit in unseren Herzen und Gedanken anfangen.“

Romy Mathys / Juli 2016

 

Charlize Theron an der Opening Ceremony: https://youtu.be/4sJQ7RfQby0
Justice Edwin Cameron: https://youtu.be/FvQFLAGuU8A
Informationen über die Konferenz: http://www.aids2016.org/

1986 traf mich die HIV-Diagnose schockartig und ich war hilflos, wie ich damit umgehen musste. Am meisten half mir in dieser Zeit, mit Menschen zu sprechen, die dasselbe erlebten. Darüber zu sprechen ermöglichte es uns, besser zu verstehen, was mit uns geschah und mit HIV umgehen. Durch das immer wieder aktive damit Auseinandersetzen gelang es mir, den Sinn darin zu erkennen.

Aaron Antonovsky (1979) schuf - im Gegensatz zur Pathogenese, die von der Entstehung von Krankheiten lehrt - die Salutogenese, die Lehre wie Gesundheit entsteht. Er beschrieb das Kohärenzgefühl mit den Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl können Stressoren im Alltag besser bewältigen und sie fühlen sich gesünder. Im HIV-Bereich wird „psychosoziale Unterstützung“ international für Menschen mit HIV klar und deutlich eingefordert. Solche psychosoziale Unterstützung umfasst dieselben Aspekte, die das Kohärenzgefühl ausmachen: sie erhalten Antworten auf ihre Fragen rund um HIV, lernen damit umzugehen und zu ergründen, ob und welchen Sinn es in ihrem Leben macht.

Seit wir mit HIV leben, haben Gespräche darüber in unterschiedlichen Formen von Selbsthilfe geholfen, HIV und seine Bedeutung für uns besser zu verstehen und unser Kohärenzgefühl nachhaltig zu entwickeln. Wir sprachen über unsere Sorgen, Krankheitsbilder und Überlebensstrategien, Ärztewahl, die Vor- und Nachteile von ART und wie wir mit HIV im Alltag zurechtkommen. Zu einer Art Wunderwaffe wurde die Liebe, die sich immer wieder manifestierte, indem wir uns gegenseitig bestärkten und respektierten, unterstützten und vertrauten. Es erfüllt mich darum mit Wehmut, dass viele HIV-Selbsthilfegruppen in den vergangenen Jahren verschwunden sind. Damit sind wichtige Gefässe zur psychosozialen Unterstützung und nachhaltigen Stärkung des Kohärenzgefühls verloren gegangen.

Aktuell verfügen in der Schweiz noch die HIV-Aidsseelsorge in Zürich und der Verein PVA Genève über Räume, in denen sie regelmässig Aktivitäten von und mit Menschen mit HIV organisieren. Menschen, die sich neu mit HIV infizieren, können sich nach wie vor an die regionalen Aids-Hilfen wenden, wo sie professionell beraten und begleitet werden. Ermutigend ist, dass genau dort auch neue Angebote für Menschen mit HIV entstanden.

"Positive Frauen Schweiz" zum Beispiel, entstanden in Kooperation von HIV-Ärztinnen und Frauen mit HIV, organisiert Selbststärkungstreffen. Diese sind thematisch ausgerichtet, zu Themen wie "Reden über HIV", "Schönheit/Körpergefühl und HIV", "Kommunikation mit/beim Arzt". Grosser Wert wird auf den persönlichen Austausch gelegt, mit gegenseitiger Unterstützung und Teilen von Erfahrungen. Aktuell finden die Selbststärkungssitzungen in Zürich (2 Gruppen), Bern und Weinfelden statt, zumeist monatlich.

Neue und innovative Wege geht die Aids-Hilfe Bern mit ihrem „peer-to-peer“ Pilotprojekt: Nachdem die „alte“ Selbsthilfegruppe sich aufgelöst hatte, entstand ein neues Angebot: erfahrene, seit Jahren mit HIV lebende Personen beraten als sogenannte „peers“ Menschen mit HIV, die Fragen rund um HIV, Medikamente und Nebenwirkungen haben und individuelle Unterstützung im Alltag benötigen. Das Projekt richtet sich auch an Migrantinnen und Migranten.

Weil ich durch unsere Selbsthilfe unter Menschen mit HIV ein starkes Kohärenzgefühl entwickeln durfte, will ich dazu beitragen, dass Frauen mit HIV Möglichkeiten haben, sich mit „peers“ auszutauschen und ihr Kohärenzgefühl zu stärken.

Romy Mathys / Mai 2016

Links:
HIV-Aidsseelsorge Zürich: www.hiv-aidsseelsorge.ch
PVA Genève: www.pvageneve.ch
Positive Frauen Schweiz: www.positive-frauen-schweiz.ch
Aids-Hilfe Bern: www.ahbe.ch