Aktuell

Prof. Dr. Bernhard Hirschel ist Infektiologe und Leiter des HIV/Aids-Zentrums am Genfer Universitätsspital, das er mit aufgebaut hat. Er betreut dort Menschen mit HIV in Genf seit Beginn der Epidemie und er ist einer der Gründer der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS). Hirschel trat im Winter 2007 als erster Schweizer HIV-Spezialist an die Öffentlichkeit mit der Information, dass Menschen mit HIV unter Therapie und voll unterdrückter Virenlast nicht mehr sexuell infektiös seien. Dies wurde von ihm und den Koautoren der Eidgenössichen Kommission für Aidsfragen (EKAF) dann im Januar 2008 in der Schweizerischen Ärztezeitung auch publiziert. Hirschel hat Hunderte von Forschungsbeiträgen in den international wichtigsten Fachzeitschriften publiziert, er ist Mitglied diverser Forschungsorganisationen und Editorial Boards. Er ist verheiratet, Vater von 3 Kindern und lebt in Genf.

Lieber Herr Hirschel, Sie haben anfang der Achziger Jahre die ersten in der Schweiz aufgetretenen Fälle von Aids beschrieben.
Unser erster Fall war eher ungewöhnlich. Es handelte sich um eine 47-jährige Hausfrau mit opportunistischen Infektionen. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nur vermuten, dass es sich um dieselbe Krankheit handelte, die vorher bereits in den USA beschrieben worden war. Es fehlte ja ein Test. Ich gab unsere Informationen dann an das CDC (1) weiter und bekam die Auskunft, dass dies erst der fünfte vermutete AIDS-Fall bei einer Frau sei. Bis heute wissen wir nicht, wie sich diese Frau infiziert hat, denn ihr damaliger Ehemann lebt meines Wissens noch und ist HIV-negativ. Das ist jetzt fast dreissig Jahre her.

Wie kamen Sie dazu, sich mit diesen Fällen zu beschäftigen?
Ich war Infektiologe hier am Genfer Unispital und forschte am Bakterium Meningococcus, bevor die ersten Aidsfälle auftraten. Als Infektiologe hatte ich direkt mit diesen Fällen zu tun. Sie haben mich stark interessiert und ich habe mich seither damit beschäftigt.

Dann ging alles sehr schnell?
Aus heutiger Sicht schon, damals waren es lange und dramatische Jahre. Im Herbst 1981 wurden die ersten Fälle beschrieben und es dauerte zwei Jahre, bis wir Klarheit bekamen über den Krankheitserreger. Luc Montagnier hatte eine erste Beschreibung von "LAV" (2) geliefert und war damit auf der richtigen Spur. Dann entstand eine Kontroverse zwischen ihm und dem amerikanischen Forscher Robert Gallo, der ein ähnliches Virus beschrieben hatte. Einige Zeit war unklar, ob man es überhaupt mit demselben Erreger zu tun hat.

Erst 1984 stand ein Antikörpertest zur Verfügung, der zu Beginn noch nicht zuverlässig war und viele falsch positive Resultate ergab.

War an HIV vor allem die hohe Mortalität ungewöhnlich?
Die Sterberate unter HIV-Infizierten kannten wir lange Zeit nicht, denn wir wussten ja nicht, wie verbreitet das Virus war und wieviele Menschen daran starben. Das Besondere an HIV war aber vor allem die ungewöhnlich lange Inkubationszeit (3). So realisierten wir erst nach und nach, dass Aids bei gegen 80% der mit HIV-Infizierten innert zwanzig Jahren ausbricht und zum Tod führt. Das wirkliche Ausmass der Epidemie wurde erst mit dem Antikörpertest deutlich.

Welche Gruppen waren zu Beginn in Genf betroffen?
Besonders markant breitete sich HIV bei den Heroinabhängigen aus. Und in dieser Gruppe hat das Gesundheitssystem zu Beginn auch am eklatantesten versagt. Es war bald klar, dass der Spritzentausch das Problem war, aber wir verbrachten in Genf lange Zeit mit dem Methadonstreit. Mit etwas entschlosserenem Handeln hätten wir in dieser Gruppe etliche Leben retten können. Hier war ja, nachdem man sich endlich zur Abgabe von Spritzen, Methadon und Heroin entschlossen hatte, auch der der grösste Präventionserfolg zu verbuchen. In keiner anderen Gruppe schlug eine einzelne Massnahme so erfolgreich durch. Heute ist HIV in dieser Gruppe nur noch ein marginales Problem.

Dann kam die Therapie. Wie war diese Revolution eigentlich möglich?
Das ist einer der erstaunlichsten Erfolge in der Medizingeschichte. Ich denke, erstens bestand allenthalben Einigkeit über die Dringlichkeit des Problems. Zweitens verfügte die Forschung bereits über Werkzeuge, mit denen das Virus angegriffen werden konnte. Die reverse Transkriptase (4) war 1970 von Howard Teamin und David Baltimore entdeckt worden und bot den ersten direkten Angriffspunkt. Drittens muss man sich die beispiellose Mobilisierung von Betroffenengruppen vergegenwärtigen, allen voran die schwulen Männer. Sie trug in hohem Mass dazu bei, dass sich das Bewusstsein und die Angst bezüglich HIV/Aids in der Allgemeinbevölkerung ausbreitete. Und damit wurden erhebliche wirtschaftliche Ressourcen mobilisiert.

Auch in der Pharmaindustrie?
Ganz besonders dort. Denn HIV hatte sich ja offenkundig weltweit ausgebreitet und so war mit therapeutischen Wirkstoffen auch Geld zu verdienen. Die entsprechende pharmafinanzierte Forschung hat sich nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen in kurzer Zeit schnell und stark entwickelt. Heute befinden wir uns nun eher wieder in einem Prozess der Strukturbereinigung. Mittelfristig werden wohl nicht alle Wirkstoffe rentabel bleiben.

Natürlich spielte es für die hohe Dynamik dieses Prozesses eine wichtige Rolle, dass man mit den antiretroviralen Wirkstoffen so erfolgreich war und so vielen Menschen helfen konnte.

Beim ersten HIV-Medikament, AZT, war man sich des Erfolgs aber noch nicht sicher?
Azidothymidin war ein Spezialfall, denn der Wirkstoff existierte ja schon seit den 60er Jahren als Krebstherapie, war dort aber ein Misserfolg. Man war in der Krebsforschung lange Zeit der Auffassung, dass die meisten Krebsformen durch Retroviren verursacht würden und hatte AZT in diesem Kontext entwickelt. Gegen HIV wirkte dieser Hemmer der reversen Transkriptase deutlich besser. Aber leider waren die Nebenwirkungen von AZT erheblich und das Virus wurde in der Regel schnell resistent gegen den Wirkstoff. Er bot also nur einen kurzen therapeutischen Aufschub.

Wie brachte man das Resistenzproblem unter Kontrolle?
Erst nachdem verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung standen gelang mit den Kombinationstherapien der therapeutische Durchbruch in den 90er Jahren. HIV kann seither bei infizierten Menschen langfristig unter Kontrolle gebracht werden. Durch die praktisch vollständige und dauernde Unterdrückung der viralen Reproduktion im infizierten Organismus wurde auch die nachhaltige Erholung des Immunsystems möglich. Und nur so gelang es, dass Menschen mit HIV dank der antiretroviralen Therapie heute eine nahezu normales Leben führen können.

Und bei voll unterdrückter Virenlast sind Menschen mit HIV praktisch nicht mehr infektiös?
Genau, diesen Effekt kennen wir schon relativ lange. Es dauerte aber seine Zeit, bis wir ihn für die Prävention mobilisieren konnten. Man hatte lange Zeit die nicht sehr rationale Befürchtung, dass man mit dieser Information die klassische kondombasierte Prävention schädigen würde.

Hat sich nicht für die HIV-Prävention eine Schere geöffnet? Einerseits möchte man heute mit diesen guten Nachrichten Menschen mit HIV für den Test und die Therapie mobilisieren. Andererseits braucht doch auch die Prävention eine Motivation?
Die Aidspräventions-"Industrie" hat vermutlich bisher zu viel Energie auf das Warnen und zu wenig auf die Erfolgsgeschichten verwendet. Da ist vielleicht, wie bei jeder Interessenorganisation, auch ein Stück Eigennutz mit im Spiel. Man möchte weiterhin auf die alten Präventionsbotschaften setzen können und mit Mitleid Fundraising betreiben. Und dazu muss man natürlich HIV nachhaltig dramatisieren. Damit werden aber die Ängste zementiert, sowohl bei Betroffenen als auch in der Öffentlichkeit und man verzögert damit den Prozess einer Normalisierung.

Wie kann man das ändern?
Ich finde es zentral, dass man aufhört, Prävention und Therapie als Gegensätze zu behandeln, zum Beispiel indem man mit dem Hinweis auf die "gefährliche" Therapie für die Prävention wirbt. Die antiretrovirale Therapie liegt sowohl im PatientInneninteresse als auch im Interesse der Prävention. Wir müssen die beiden Dinge zusammen denken. Neue Ideen zur Prävention werden also dringend gebraucht.

Haben Sie eigentlich 2007, bzw. 2008 die teilweise recht fulminanten internationalen Reaktionen auf das EKAF-Statement erwartet?
Die Heftigkeit hat mich in einigen Fällen schon überrascht. Andererseits waren die EKAF-Mitglieder diesbezüglich auch nicht naiv. Wir wussten, dass wir diese Botschaft pointiert formulieren müssen, damit sie überhaupt ankommt. Insofern haben wir auch mit Reaktionen gerechnet.

Ich möchte aber auch festhalten, dass die Kernaussagen des EKAF-Statement – nämlich der Präventionseffekt der HIV-Therapie – heute kaum noch Widerspruch erzeugt. Die heute laufenden Diskussionen drehen sich im wesentlichen um die Frage, wie weitreichend dieser Effekt ist und wie er für die HIV-Prävention in Dienst genommen werden kann.

Damit der präventive Effekt einer HIV-Therapie wirksam werden kann, muss ein Mensch mit HIV erst wissen, dass er oder sie positiv ist – und dann noch eine Therapie beginnen wollen. Wir wissen aber, dass noch immer viele Menschen Angst sowohl vor dem Test, als auch vor der HIV-Therapie haben.
Jeder von uns hat Angst vor einer ernsten medizinischen Diagnose und ihren Folgen. Es ist eine natürliche Reaktion, dass man schlechte Nachrichten nicht hören will. Und leider ist es so, dass Menschen mit HIV, teilweise zu Recht, grosse Vorbehalte haben, mit ihrer Infektion und unter Therapie an die Öffentlichkeit zu treten, um so damit beizutragen, diese Ängste abzubauen. Das ist verständlich, denn die Infektion und die Therapie belasten das Leben ohnehin und Betroffene wünschen sich in der Regel nichts mehr, als ihr Leben in Ruhe weiterleben zu können, sei es allein, im Beruf, in einer Partnerschaft oder in einer Familie.

Andererseits hat man seitens der Präventionsagenturen gerade diese Ängste auch immer wieder geschürt um nur ja nicht HIV zu verharmlosen und damit etwa Safer Sex zu diskreditieren. Davon sollte man jetzt Abschied nehmen.

Können wir denn überhaupt damit rechnen, dass wir weltweit genügend Menschen mit HIV-Medikamenten versorgen können, damit ein entsprechender Effekt auf die Epidemien wirksam würde?
Das weiss ich nicht. Man hat es auch noch nicht ausprobiert und man müsste einen gezielten, regional begrenzten Versuch dazu unternehmen. Was wir heute vermuten, ist, dass sich der breite Einsatz der Therapie in den "alten" Epidemien, also zum Beispiel in westlichen Grossstadtzentren wie San Francisco oder Vancouver, schon jetzt auf die Zahl der Neuinfektionen auswirkt – dass also weniger Menschen infiziert werden, wo die Therapie weiter verbreitet ist.

Abgesehen von der Frage nach dem Effekt der Therapie auf die HIV-Epidemien stellen sich aber auch noch andere Fragen. Auch wenn wir voraussetzen, dass die HIV-Therapie die Epidemien zu stoppen vermöchte, wissen wir im Augenblick nicht, wie ein derartig aufwändiges und teures globales Projekt überhaupt durchgeführt und bezahlt werden könnte. HIV ist nicht das einzige drängende Problem in den stark betroffenen Ländern. Es steht unter anderem in Konkurrenz mit weiteren wichtigen medizinischen Problemen, zum Beispiel Malaria. Ausserdem kämpfen diese Länder nicht selten mit grundlegenden Herausforderungen in Bezug auf Ernährung und Wasserversorgung – und erst recht in Bezug auf ein funktionierendes Gesundheitssystem. Wir können also nicht einfach von hier aus entscheiden, dass jetzt zuerst das Problem HIV gelöst wird und glauben, dass es damit getan ist.

Das Thema "Test and Treat" (4) ist heute sehr aktuell. Also der Ansatz, möglichst viele Menschen zu testen um sie schnell zur Therapie zu bringen. Vor kurzem hat die Fachkommission für Klinik und Therapie (FKT) ihre Empfehlungen zum Testen im Rahmen der normalen Gesundheitsversorgung revidiert. Die FKT schlägt vor, dass der Test ähnlich wie andere diagnostische Tests routinemässig gemacht werden sollte und dass er nicht mehr notwendig mit einer Beratung verknüpft sein muss. Ausserdem soll der Test unter bestimmten Bedingungen auch ohne Informierung von PatientInnen gemacht werden können.
Auch ich bin der Meinung, dass der HIV-Test stärker in die Routineuntersuchungen integriert werden sollte. Erstens ist der Test heute äusserst zuverlässig und zweitens relativ billig. Wenn es gelingt, mehr Menschen rechtzeitig zur Therapie zu bringen, dann wird sich daraus unter dem Strich eine Kostenersparnis ergeben, weil diese Menschen ein gesünderes und produktiveres Leben haben werden. Damit kann insgesamt etwas erreicht werden, sowohl für Menschen mit HIV, als auch für die öffentliche Gesundheit. Natürlich sind Forderungen nach einem Informed Consent (5) einerseits und einem wirkungsvollen HIV-Screening andererseits gegeneinander abzuwägen.

Eine der noch immer bestehenden Herausforderungen gegenüber einer allgemeinen "Normalisierung" von HIV ist das Problem des HIV-Stigma und die darauf gründende soziale, rechtliche und wirtschaftliche Diskriminierung von Menschen mit HIV. Bis jetzt war die Testpolitik davon ausgegangen, dass jede Person selber entscheiden können muss, ob sie einen HIV-Test machen will oder nicht. Sollten wir wirklich das Prinzip des auf Freiwilligkeit basierenden Beratens und Testens (6) so schnell in der medizinischen Routine aufgehen lassen?
Ich finde, dass man das Problem nicht auf diese Weise zuspitzen sollte. Die EKAF verband mit ihrer Stellungnahme 2008 ausdrücklich die Hoffnung, dass mit der systematischen Informierung über die Möglichkeiten und den Erfolg der Therapie die Ängste gegenüber HIV abgebaut werden - und damit die Quellen von Stigma und Diskriminierung. Im Bereich der Rechtsprechung sind wir mit dieser Strategie erfolgreich. Es kommt immer öfter zu Verfahrenseinstellungen, wenn ein Indexpatient nachweisen kann, dass von ihm kein Infektionsrisiko ausgeht. Ich denke auch, dass wir bezüglich Stigma und Diskriminierung in den letzten zwanzig Jahren weitergekommen sind und dass dieser Prozess weitergehen wird. Allerdings gebe ich Ihnen in einem Punkt recht: gerade jene PatientInnen, welche attraktive Rollenmodelle abgeben könnten für diese Entwicklung, wollen sich heute eher weniger als früher dafür einsetzen. Ich finde, dass es aber vor allem eine Aufgabe der Präventionsorgansationen ist, sich konsequent für diesen Prozess der Normalisierung einzusetzen.

Lieber Herr Hirschel, ich danke Ihnen für das interessante Gespräch.

Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz

 

(1) Center for Disease Control, die us-amerikanische Behörde für die Überwachung infektiöser Krankheiten.
(2) LAV: "Lymphadenopathy Associated Virus", also das Virus, das eine Erkrankung der Lymphknoten (die charakteristische Schwellung) verursacht. Luc Montagnier erhielt für die Entdeckung von HIV 2008 den Nobelpreis in Medizin.
(3) Inkubationszeit: der Zeitraum von der Übertragung eines Krankheitserregers bis zum Ausbruch der Krankheit.
(4) Reverse Transkriptase (RT): ein biologischer Baustein der beim Zusammenbau des HIV-Ergutes eine zentrale Funktion hat. HIV und andere Viren bauen mit Hilfe von RT ihr Erbmaterial so um, dass es in einen Wirtsorganismus integriert werden kann. Teamin und Baltimore erhielten für die Entdeckung der RT 1976 den Nobelpreis in Medizin.
(5) Informierte Entscheidung: der Patient entscheidet, nach vollständiger Information seitens des Arztes, selbst, ob er einen HIV-Test machen will oder nicht.
(6) VCT: Voluntary Counselling and Testing ist eines der Grundprinzipien der HIV-Testpolitik.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch

Noch immer wirkt eine HIV-Diagnose wie ein Hammerschlag. Nichts scheint mehr, wie es vorher war. Ein Betroffener gibt Rat.

Die HIV-Diagnose ist für die meisten Betroffenen eines der wichtigsten Ereignisse im Leben. Die einen "wussten" es vielleicht im Stillen und haben jetzt die Bestätigung, andere hatten Risikokontakte und Symptome einer Primoinfektion, wieder andere waren ganz ahnungslos - so unterschiedlich wie die Ausgangslage ist auch die individuelle Reaktion. Voraussehbar ist wenig. Als selbst Betroffener bin ich oft mit Freunden oder Bekannten konfrontiert, die mit einer frischen Diagnose kämpfen. Wenn man diese Auseinandersetzung hinter sich hat, ist man eher in der Lage, ein paar hilfreiche Tipps zu geben.

Viele schämen sich, ärgern sich, weil man ja gewusst hätte wie man sich schützt. Andere sehen den Tod vor Augen, werden von Angst überwältigt, fühlen sich allein auf dieser Welt. Gestern war die Welt schön, heiter und voll Zuversicht - heute ist bloss Verzweiflung und ein grosses, dunkles Loch, nichts scheint mehr wie es war.

Auch wenn es im Moment schwierig scheint: erstens geht das Leben weiter, und zweitens kann man einiges tun gegen dunkle Gedanken und Gefühle - und für sich selbst. Du bist nicht alleine - in der Schweiz leben mehr als 20'000 Menschen mit einer HIV-Infektion, und alle mussten sich dieser Auseinandersetzung stellen. Wer die Diagnose in einem HIV-Testzentrum bekommen hat, hat vielleicht hier die Gelegenheit bereits beim Schopf gepackt und sich mit dem Berater über die drängendsten Fragen ausgesprochen. Zuhause angekommen ist man trotzdem alleine mit dem Befund, sucht Halt und hat bereits tausend neue Fragen.

Die Falle Selbststigmatisierung
Es hilft vielleicht auch, mal über Selbststigmatisierung nachzudenken. In dieser Falle bleiben viele von uns stecken. Es bringt nichts, sich selber zu beschuldigen, sich sozial zu isolieren oder mit niemandem über die Diagnose zu reden. Solche Reaktionen sind selbstzerstörerisch. Wenn Du das Gefühl hast, dass Du Dich selber stigmatisierst, rede mit jemandem. Eine Beratung bei der Aids-Hilfe, beim Checkpoint kann helfen. Erfahrene HIV-positive Menschen haben meist gelernt, damit umzugehen - auch sie können dir weiterhelfen.

Beobachte Dich aufmerksam in den ersten Wochen nach der Diagnose. Wenn Dir die Lebensfreude abhanden kommt, Du keine Entscheidungen mehr fällen kannst, die Lust an der Arbeit, Deinen Hobbies verlierst, dann brauchst Du vielleicht psychologische Unterstützung. Schäme Dich nicht, die Hilfe zu suchen, die Du brauchst.

Mit wem reden, mit wem nicht?
Sehr wichtig in den ersten Wochen nach dem Befund sind gute Ansprechpartner. Gute Freunde, denen man wirklich vertrauen kann, ein starker Partner, der Geborgenheit schenkt, oder ein von der regionalen Aids-Hilfe vermittelter ausgebildeter HIV-positiver Coach. Der Zürcher Checkpoint hat ein ausgezeichnetes Angebot, andere Aids-Hilfen ebenfalls - nachfragen lohnt sich und kostet nichts.

Wer positive Freunde oder Freundinnen hat, darf dort andocken und das Gespräch suchen. Ein bisschen Vorsicht ist geboten - man kann die besten Freunde überfordern, wenn man hunderttausend Fragen hat. Darum ab und zu nachfragen, und wenn nötig via Aids-Hilfe zusätzlich Rat holen. Überlege Dir aber gut, mit wem Du über Deine Diagnose reden willst. Der Austausch mit erfahrenen Patienten ist auch in dieser Hinsicht sehr wertvoll. Den Coiffeur, Deine Nachbarin, Dein Arbeitgeber geht Deine Diagnose meiner Meinung nach nichts an. Auch bei den Eltern ist manchmal Vorsicht angebracht - viele Deiner Mitmenschen sind mit Deiner Diagnose noch mehr überfordert als Du selber.

Diese erste Orientierungshilfe ist wichtig für Dich. Die Fortschritte in der HIV-Therapie und Forschung sind enorm. Möglicherweise hast Du völlig falsche Vorstellungen, was Leben mit HIV heute bedeutet. Wenn Du Dich mit der positiven Diagnose einfach verkriechst, dann bringt Dich dies sicher keinen Schritt vorwärts.

Habe ich den richtigen Arzt?
Als nächstes solltest Du Dir überlegen, ob Du für Deine Diagnose den richtigen Arzt hast, oder erst einen suchen musst. Theoretisch reicht dafür der Hausarzt. Die lebenslange HIV-Therapie ist aber derart komplex geworden, dass man sich das schon gut überlegen muss. Wenn Dein Hausarzt nicht mindestens 30-40 HIV-Patienten versorgt, dann fehlen ihm sehr wahrscheinlich die Zeit und Erfahrung, um eine langfristig optimale Betreuung sicherzustellen. Die Adressen der grösseren Schweizer Behandlungszentren findest Du hier.

In städtischem Umfeld sind auch einige HIV-Spezialisten mit freier Praxis tätig. Viele Patienten fühlen sich dort am besten aufgehoben. Adressen kann man bei der regionalen Aids-Hilfe erfragen. Wer auf dem Land wohnt, kann sich in den meisten Fällen trotzdem in einem grösseren Zentrum oder bei einem Spezialisten behandeln lassen. Es lohnt sich, den Weg in Kauf zu nehmen. In der Regel ist ein Arztbesuch ja nur alle drei Monate nötig. Auf den ersten Arztbesuch nach der Diagnose werden wir im nächsten Newsletter näher eingehen.

Brauche ich sofort eine Therapie?
Je nachdem, wie fortgeschritten Deine Infektion beim Zeitpunkt der Diagnose ist, brauchst Du entweder sofort eine Therapie, oder Du kannst noch zuwarten. Es ist sehr wichtig, diese Frage mit dem behandelnden Arzt rasch abzuklären. Deshalb ist auch das rasche Überprüfen Deiner ärztlichen Versorgung wichtig für Dich. Die neusten Zahlen der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie zeigen, dass die Schweizer Patienten ihre Therapie mit durchschnittlich weniger als 300 CD4-Zellen beginnen (die Kohortenstudie verfolgt die meisten HIV-Patienten der Schweiz langfristig). Bei Heterosexuellen und injizierenden Drogenkonsumenten ist dieser Durchschnitt nah bei 200 CD4. Das heisst, dass die meisten Patienten zu spät mit der Therapie beginnen. Entweder testen die Leute zu wenig oder zu spät, oder sie zögern zu lange mit dem Therapiestart.

Es ist für Betroffene wichtig zu verstehen, dass das Immunsystem ab Zeitpunkt der Infektion stark unter Druck gerät, weil es Abwehrkräfte gegen das Virus mobilisiert. Diesem Druck kann das Immunsystem eine Zeitlang standhalten (diese Zeitspanne variiert stark, jeder Mensch, jedes Immunsystem ist anders). Wenn die CD4-Helferzellen unter 500 sinken, redet man bereits von einem leicht geschwächten Immunsystem, ab 350 CD4 soll man gemäss gegenwärtigen Richtlinien mit der Therapie starten. Bei positiver Diagnose ist es wichtig, dass die erste Arztvisite rasch nach dem Befund stattfindet, damit die nötigen Abklärungen gemacht werden können. Zu lange abwarten führt zu schlechteren Behandlungsergebnissen, ist also nicht gut für Dich.

HIV und die Sache mit dem Sex
Für viele HIV-Infizierte wird die Sexualität ein schwieriges Thema. Man hat Angst, neue Leute kennenzulernen, man fürchtet sich, das Thema HIV überhaupt anzusprechen. Die meisten Betroffenen brauchen recht lange, um wieder zu einer unbeschwerten Sexualität zurückzufinden. Wenn man frisch infiziert ist, ist die sogenannte Viruslast sehr hoch, und damit auch die Ansteckungsgefahr. Konsequenter Kondomgebrauch ist also sehr wichtig. Wenn man unter Therapie ist und eine feste Beziehung hat, kann man unter bestimmten Umständen auf das Kondom verzichten. Die eidgenössische Kommission für Aidsfragen EKAF hat zu diesem Thema im Jahr 2008 Stellung bezogen. Ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt, oder mit einem Berater, einer Beraterin von der Aids-Hilfe ist auch hier sehr empfehlenswert.

Wo kann ich Infos abholen?
Nutze diese Zeit auch, um Dich besser zu informieren. Konsultiere die Webseite der Aids-Hilfe Schweiz für HIV-Positive. Du findest hier nützliche Informationen online, zum runterladen, Broschüren zum bestellen, wichtige Links zu anderen Organisationen und Informationsquellen, auch wichtige medizinische Infos. Wer Englisch spricht, findet auf Aidsmap eine ausgezeichnete und umfassende Informationsquelle. Wenn Du beruflich oder privat häufig reist oder längere Auslandaufenthalte planst, machst Du Dich am besten auf hivrestrictions.org ein wenig schlau über mögliche Beschränkungen.

David H.U. Haerry, durchgelesen von Romy Mathys

 

POSITIV 2/2010 © Aids-Hilfe Schweiz

Wenn es um die Gesundheit geht, ist es entscheidend, zu verstehen und verstanden zu werden. Fremdsprachige brauchen daher bei Beratungsgesprächen oder Arztkonsultationen nicht selten interkulturelles Übersetzen – eine Dienstleistung, die in der multikulturellen Schweiz zusehends an Bedeutung gewinnt. 

Die Behandlung und Prävention von HIV/Aids ist ein komplexes und sehr sensibles Thema, bei dem vertrauensvolle und differenzierte Gespräche eine zentrale Rolle spielen. Wenn diese Gespräche auch mit den hierzulande lebenden Migranten und Migrantinnen gelingen sollen, ist die Anwesenheit von interkulturellen Übersetzern oder Übersetzerinnen oft unerlässlich. Interkulturelles Übersetzen unterscheidet sich vom herkömmlichen Dolmetschen darin, dass bei Bedarf auch eine kulturelle Übersetzungsleistung erbracht wird; etwa indem die am Gespräch Beteiligten auf unterschiedliche Wahrnehmungen, Wertvorstellungen und Bedeutungen aufmerksam gemacht werden. 

Zurzeit leben in der Schweiz schätzungsweise 200‘000 Personen, die weder eine Landessprache noch Englisch verstehen. In der Migrationsbevölkerung, die etwa einen Fünftel der Wohnbevölkerung ausmacht, gibt es zudem eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Personen, die zwar ein Alltagsgespräch bewältigen können, aber von komplizierteren Erläuterungen zu Gesundheitsfragen bald einmal sprachlich überfordert sind. Dies kann sich zum Beispiel bei Arztgesprächen negativ auf das Vertrauensverhältnis, die Patientenzufriedenheit und die Therapietreue auswirken; zudem besteht auch das Risiko einer Fehldiagnose oder falschen Behandlung.

Fachleute und Behörden haben das Problem erkannt: Das interkulturelle Übersetzen ist daher seit 2002 ein Schwerpunkt des Nationalen Programms Migration und Gesundheit, das durch das Bundesamt für Gesundheit umgesetzt wird. Bislang sind 650 Personen als interkulturelle Übersetzer bzw. Übersetzerinnen in den 50 geläufigsten Sprachen der Migrationsbevölkerung zertifiziert worden. Sie sind an die Schweigepflicht gebunden und können – im Gegensatz zu den spontan zum Übersetzen herbeigezogenen Angehörigen von Fremdsprachigen – eine professionelle Qualität der Verständigung bei Arztkonsultationen oder Beratungsgesprächen gewährleisten. Ihre Dienste können via regionale Vermittlungsstellen angefordert werden, die auf der Webseite der Dachorgansiation Interpret aufgelistet sind.

Im Rahmen des Programms Migration und Gesundheit tragen auch folgende Projekte und Publikationen zur Förderung des interkulturellen Übersetzens bei:

  • Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich können via Webseite migesplus.ch Gesundheitsinformationen in mehr als 25 Sprachen beziehen, um diese in ihrem Praxisalltag an Migranten und Migrantinnen abzugeben. Es sind dort auch zahlreiche fremdsprachige Broschüren über HIV/Aids zu finden.
  • Das Handbuch „Diversität und Chancengleichheit“, das im Rahmen des Projekts Migrant Friendly Hospitals entstanden ist, weist den Bedarf nach interkulturellem Übersetzen im Spitalalltag nach und macht konkrete Empfehlungen für die Umsetzung.
  • Der Dokumentarfilm „Verstehen kann heilen“ veranschaulicht, wie interkulturelles Übersetzen im Spitalalltag eingesetzt wird.
  • Das Rechtsgutachten „Übersetzen im Gesundheitsbereich: Ansprüche und Kostentragung“ belegt, dass niemandem wegen mangelnder Sprachkenntnisse eine medizinisch indizierte Behandlung vorenthalten werden darf. Zudem muss die Aufklärung zur Erreichung des „informed consent“ in einer für den Patienten bzw. die Patientin verständlichen Sprache erfolgen.
  • Die Vorstudie „Kosten und Nutzen des interkulturellen Übersetzens im Gesundheitswesen“ skizziert, wie die Argumentation wissenschaftlich zu belegen ist, dass dank interkulturellem Übersetzen ungünstige Krankheitsverläufe und medizinische Überversorgung vermieden werden können.
  • Um den Einsatz von interkulturellem Übersetzen weiter zu fördern und zu vereinfachen plant das Bundesamt für Gesundheit auch den Aufbau eines nationalen Telefondolmetschdienstes, mit dem noch dieses Jahr begonnen werden soll.

Kurzum, es tut sich vieles. Jetzt sollte das vielfältige Angebot nur noch besser bekannt und genutzt werden. 

Agatha Blaser, Bundesamt für Gesundheit, Nationales Programm Migration und Gesundheit, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Nützliche Links:
Dachorganisation Interpret: www.inter-pret.ch  
Gesundheitsratgeber für Migranten und Migrantinnen: www.migesplus.ch  
Nationales Programm Migration und Gesundheit (Film, Spitalhandbuch und wissenschaftliche Studien): www.miges.admin.ch   
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch

Dr. des. Divine Fuh ist Ethnologe an der Universität Basel. Er stammt aus Kamerun und befasst sich seit vielen Jahren mit Fragen der männlichen Identität unter jungen Afrikanern, vorzugsweise in seinem Heimatland. Fuh war als Experte auch während mehrerer Jahre in HIV-Präventionsprojekten involviert und hat diverse Institutionen bei der Entwicklung und Lancierung nationaler Projekte beraten. Im Gespräch äussert er sich zum Phänomen multipler Partnerschaften in Afrika.

Lieber Herr Fuh, sind multiple Partnerschaften generell verbreitet in den Ländern der Region Subsahara-Afrika? Oder sind sie eine Erscheinung in bestimmten sozialen Gruppen?
Soweit ich sehe, ist dieses Beziehungsmuster gerade bei jüngeren Menschen im Altersbereich zwischen 15 und 35 ein weit verbreitetes Phänomen, und nicht nur in urbanen Regionen. Junge Frauen und Männer haben dabei ihre je eigenen Motive für die Führung mehrerer gleichzeitiger Beziehungen.

Handelt es sich um ein traditionell normiertes System, eine Art moderner Polygamie?
Ich würde Polygamie klar unterscheiden von dem Phänomen, um das es hier geht. Erstens war Polygamie ein stark normiertes System in Clangesellschaften, dass für das Individuum wenig Handlungsspielraum liess. Zweitens spielen die Frauen in modernen, multiplen Partnerschaften eine wesentlich aktivere Rolle. Ich würde es als eine Art modernder Beziehungswirtschaft bezeichnen. Meiner Meinung nach reden wir hier von einer Erscheinung, die keineswegs auf Afrika beschränkt ist. In vielen westlichen Ländern hat man ähnliche Phänomene beobachtet. Allerdings wird damit unterschiedlich umgegangen: in Frankreich sind multiple Partnerschaften ein diskussionsfähiges Thema, in der Schweiz nicht.

Als Beobachter hat man den Eindruck, dass dieses Beziehungsmodell erhebliche Ressourcen voraussetzt, dass es also eher eine Erscheinung in wirtschaftlich besser gestellten Gruppen ist.
Das entspricht nicht meinen Erfahrungen. Zwar mögen die Art und die Grösse der eingesetzten Ressourcen variieren, aber die Struktur des Modells ist nicht auf eine bestimmte soziale Schicht begrenzt. Man sollte auch bedenken, dass multiple Beziehungen in der Regel funktional differenziert sind. Beschreibungen wie die der "3 C" oder der "Five Ministries" (1), die sehr verbreitet sind, drücken das sehr treffend aus. Ein einzelner Partner muss also nicht alles leisten, sondern nur die von ihm erwartete Funktion erfüllen. Ausserdem investieren Partner in multiplen Beziehungen nicht nur eigene Ressourcen, sondern sie erhalten auch Gegenleistungen: Sex, Geld, Respekt, Status, Güter usw..

Die Anforderungen zwischen PartnerInnen verändern sich grundsätzlich immer mit der Zeit. Es erstaunt deshalb nicht, dass in unserem Zeitalter des Konsums junge Menschen "Beziehungswirtschaften" betreiben. Und dass die entsprechenden Einstellungen dazu auch dem übrigen Konsumverhalten ähneln. Das ist aber keine afrikanische Besonderheit.

Präventionskampagnen in Europa haben dieses Phänomen bisher kaum thematisiert, obwohl die Fakten relativ gut bekannt und tw. auch untersucht sind. Man befürchtet hauptsächlich, damit die angezielten Publika abzuweisen, weil derartige Kampagnen als moralische Imperative verstanden werden könnten. 
In der Prävention sollte man nicht so tun, als existierte das Phänomen multipler Partnerschaften nicht. Aber ebensowenig sollte man es moralzentriert angehen. Es sollte einer der Aspekte sein den man, neben anderen, mit Präventionskampagnen anspricht. Denn es ist ein Aspekt, der mindestens für individuelle HIV-Risiken eine Rolle spielen kann. Und da es letztlich um ein gesundheitlichen Problem geht, sollte man auch auf die gesundheitlichen Aspekte fokussieren.

Erreicht man mit solchen Kampagnen etwas in Bezug auf die Neigung zu multiplen Partnerschaften?
Man kann in diesem Bereich ebenso gut etwas erreichen wie in jedem anderen Präventionsbereich. Die Frage ist, wie man die Sache zum Thema macht und wer das Zielpublikum sein soll. Wenn man über Sex spricht, hören gerade junge Leute immer sehr aufmerksam zu. Und sie sind sehr anpassungsfähig. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass in afrikanischen Ländern mit Kampagnen zum sexuellen Verhalten etwas erreicht wurde.

Danke für dieses interessante Interview.

 

Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz

 

(1) Der Ausdruck "3 C" ist speziell unter jüngeren Afrikanerinnen verbreitet. Er steht für die materiellen Bedürfnisse, die junge Frauen durch ihre (ev. verschiedenen) Partner erfüllt haben möchten: "Car, Cash, Cellphone". Ein Partner kann z.B. mit der Zahl der "C", die er erfüllt, bewertet werden; oder er kann grundsätzlich als "3C" bezeichnet werden.

"Five Ministries" ist ein analoger Ausdruck, der in allen Altersgruppen bekannt ist. Er bedeutet wörtlich "5 Ministerien" und damit sind gemeint: Transport (Auto), Kommunikation (Cellphone, Internet etc.); Aussenministerium (zuständig für Zugang zu Parties oder repräsentativen Veranstaltungen), Finanzministerium, Innenministerium (Wohnung, Komfort, Sexualität etc.). Der Innenminister ist in der Regel der feste Partner ("Titulaire").
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch

Casablanca, 28. - 31. März 2010

Gegen 2000 Personen, mehr als die Hälfte davon aus den Ländern des Südens, nahmen an dieser wichtigsten frankophonen HIV/Aids-Konferenz in Marokko teil. Im Zentrum standen Fragen der Therapieversorgung, der Migration und von Stigma und Diskriminierung von HIV/Aids.

Wir wissen genug, können wir handeln?
Die HIV-Therapie ist zentral für die Lebens- und Gesundheitserwartung von Menschen mit HIV und gleichzeitig spielt sie für die HIV-Prävention eine wichtige Rolle. Für die Ausweitung der Therapieversorgung stellen sich für die Länder des Südens aber weiterhin grosse Herausforderungen. Und dies in einer Situation, in der zu jeder therapierten Person zwei neu Infizierte hinzukommen. 2005 setzten sich die Vereinten Nationen (UNAIDS) das ergeizige Ziel, bis 2015 die Hälfte aller Menschen mit HIV-Therapiebedarf zu versorgen. Dazu mussten die Rahmenbedingungen geschaffen, die finanziellen Mitteln beschafft und die Akteure zur Umsetzung des Plans "3 by 5" mobilisiert werden. In Casablanca wurde diesbezüglich eine gemischte Bilanz gezogen. Einerseits konnten die Medikamentenpreise seit 2006 um 50% gesenkt werden und die Medikamentenversorgung hat sich verbessert (1). Andererseits sind tiefere Preise und mehr Geld nötig. (2) Dazu gehört auch die Möglichkeit zur Produktion von Generika vor Ort und dies bedingt die Freigabe bestimmter Wirkstoffpatente. Darum wurde von Unitaids erneut zur Konstituierung eines Patente-Pools aufgerufen.(3) Einige Länder verfolgen diese Politik bereits erfolgreich und haben entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen.

Stand 2010: Herausforderungen, Probleme
Neben der Finanzproblematik, die auch Medikamente gegen andere wichtige Infektionen wie TB und HCV betrifft, besteht das Problem, dass das vorhandene Wissen nicht in Handeln übersetzt wird. Das betrifft z.B. den Einsatz von klassischen Präventionsmitteln, aber auch Massnahmen zur Förderung der Therapietreue. Nötig ist eine «éducation thérapeutique». Es ist die Aufgabe der MediatorInnen, aber auch aller anderen AkteurInnen, die Observanz von Präventions- und Therapiemassnahmen zu sichern. Das ist speziell wichtig im Hinblick auf die auch in Afrika markant steigende Lebenserwartung von Menschen mit HIV unter ART.

Diskriminierung und Stigmatisierung von HIV+ und Homosexuellen sind nach wie vor stark verbreitet. Insbesondere die Gesetzgebung in (nord)afrikanischen Ländern mit Strafandrohung für Homosexualität erschwert Prävention und Therapie. Allerdings ist Diskriminierung gerade auch für Frauen in Afrika ein wichtiges Problem. Weiter muss Prävention und Versorung stärker in besonders vulnerablen Gruppen  wie Strafgefangenen, FSW und und IDU ausgeweitet werden.

Betont wurde weiter die Wichtigkeit der psychologischen Akzeptanz der Infektion bzw. des Infektionsrisikos. Die Anwendung von Präventionswissen, Therapiewissen und nachhaltigem Gesundheitspflegewissen sind bedeutende Herausforderung sowohl für die Forschung als auch für die Bildung im Gesundheitsbereich.

Homosexualität ist kein koloniales Problem
Cheikh Ibrahima Niang aus Kamerun demontierte demgegenüber den (afrikanischen) Mythos, dass Homosexualität ein von ausserhalb nach Afrika importiertes Phänomen sei und plädierte für die „Integration des Anderen“. Niang ist Anthropologe, lehrt in Dakar und befasst sich seit langer Zeit mit den sozialen Aspekten der HIV-Epidemien in Senegal, Côte d'Ivoire, Ruanda, Burkina Faso, Gambia und Guinea. Er war verschiedentlich als Berater für UNAIDS tätig und koordiniert das SAHARA-Netzwerk für Westafrika (Social Aspects of HIV/AIDS Research Alliance). (4)

Die nächste, 6. Conférence Francophone sur le VIH/SIDA wird 2012 in Genf stattfinden. (5)

Barbara Beaussacq, Noël Tshibangu, Aids-Hilfe Schweiz

(1) Durchschnittlich sind 40% des Bedarfs gedeckt, www.unaids.org.
(2) The Global Fund stellt jährlich 19 Mia Dollar zur Verfügung, www.theglobalfund.org.
(3) Patent Pool Intitiative: www.unitaid.eu.
(4) www.sahara.org.za.
(5) www.vihcasablanca2010.com.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch