Dr. med. Markus Frei ist Tropennmediziner und Allgemeinpraktiver mit Schwerpunkt HIV in Luzern. Er betreut seit vielen Jahren eine grosse PatientInnengruppe in der Innerschweiz, davon ein Grossteil Menschen mit Migrationshintergrund. Seit 2009 arbeitet Frei in einer Gruppenpraxis von 5 ÄrztInnen, darunter ein Infektiologe. Die Praxis arbeitet eng mit der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) zusammmen. Frei selbst hat langjährige Erfahrung mit HIV-positiven Menschen aus der Region Subsahara-Afrika, er arbeitet regelmässig in Projekten in dieser Region mit und hält sich oft in Afrika auf.
Lieber Herr Frei, mit welchen Personen mit Migrationshintergrund haben Sie zu tun?
Meine letzten PatientInnen sind v.a. Äthiopier und Eritreer, ausserdem etliche WestafrikanerInnen aus Angola und Kongo, die während der Bürgerkriege geflüchtet sind, und Kenianer. Weiter Personen aus Kamerun, Liberia und Algerien. Daneben kommen Personen aus Asien und Südamerika. Von meinen etwa 160 HIV-PatientInnen stammen rund 60 aus Afrika oder Asien. Bei den PatientInnen aus Afrika liegt durchwegs eine heterosexuelle Uebertragung vor.
Wie kommen die PatientInnen zu ihnen?
Die Frauen kamen in den letzten zwei Jahren hauptsächlich weil sie anlässlich einer Schwangerschaft positiv getestet wurden. Viele PatientInnen werden von ihrem Hausarzt überwiesen. Die meisten kommen wegen Symptomen. Einige Männer kommen zu mir zum Test, entweder als seronegative Partner von HIV-Positiven, oder weil sie unspezifische Symptome haben.
Wie funktioniert die Verständigung mit Menschen aus Afrika?
Meistens nicht so gut. Die Westafrikaner sprechen Französisch, die aus Kenia und Tansania Englisch, immer unterschiedlich gut. Dagegen sprechen Personen aus Eritrea oder Äthiopien oft nichts von beidem. Bei der Caritas können wir dazu interkulturelle Übersetzer anfordern und das ist sehr hilfreich. Allerdings ist das Problem damit nicht immer gelöst. Ein Mann wollte nach seiner Informierung über die positive Diagnose vermittels eines Übersetzers nie mehr mit einem Übersetzer sprechen. Dass diese Drittperson davon erfuhr, war für ihn fast schlimmer, als die Diagnose selbst.
Ist das ein generelles Problem mit Menschen aus Afrika?
Viel mehr in der Schweizer Diaspora als in Afrika selbst. Hier ist kaum bekannt, dass sich die Verhältnisse in Afrika in den letzten Jahren stark verändert haben. HIV und Aids sind als gesellschaftliche Problem dort weitherum anerkannt, Therapien sind verfügbar und die Menschen wissen, dass man nicht mehr automatisch an HIV stirbt. Es gibt Selbsthilfegruppen, öffentliche Auftritte von Betroffenen, Betroffene im Arbeitsmarkt, öffentliche HIV Tests von politischen Führern und sogar Partnersuche für Positive. Aber natürlich sind demgegenüber auch die bekannten Versorgungs- und Finanzierungsprobleme in Afrika sehr real, und die Therapiesituation der meisten Menschen mit HIV in Afrika ist nicht mir der in der Schweiz vergleichbar.
Warum kennen die MigrantInnen die Situation in den Heimatländern nicht?
Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre, die von vielen Menschen in der Diaspora nicht wahrgenommen wurde. Auch fehlt das Bewusstsein, dass so viele Mitglieder der Community HIV-positiv sind.
Andererseits hat man auf der Angebotsseite bis jetzt offenbar noch nicht das Ei des Kolumbus entdeckt, das Problem ist grundsätzlich schwierig zu lösen. Die besten Erfahrungen habe ich in Luzern mit einer HIV-positiven Beraterin gemacht, die seit Jahren in diesem Bereich tätig ist. Ich habe ihre Telefonnummer und kann sie immer anfragen, wenn es ein spezielles Problem mit einem Patienten gibt. Auf diesem Weg bekommen wir immer wieder Unterstützung, sie kann das einfach gut. Es hängt viel von bestimmten Persönlichkeiten ab und ideal wäre wohl, wenn diese aus der afrikanischen Community kämen.
Welche Themen sind im Praxisalltag wichtig?
Ich kann heute davon ausgehen, dass MigrantInnen mit einem bestimmten Hintergrundwissen zu HIV/Aids kommen. Es ist nur noch selten nötig, dass man die grundlegendsten Zusammenhänge erklären muss, weil etwa Betroffene nicht an den Zusammenhang zwischen HIV und Aids glauben würden. Viele Menschen fürchten nach einer positiven Diagnose allerdings immer noch, dass sie bald sterben.
Ein wichtiges Probem in dieser Gruppe ist der Einbezug der Partner. Ich habe häufig den Eindruck, dass seronegative PartnerInnen nicht informiert werden, und es ist auch selten, dass der oder die PartnerIn in die Beratung einbezogen werden können. Aber letztlich hängt das mit der allgemeinen Problematik zusammen, dass man nicht darüber reden will.
Ist das auch ein Problem für die Sexualanamnese?
Ja. Es gibt nicht nur die sprachlichen Hürden, sondern es ist allgemein schwierig, mit Personen bestimmter Migrationsgruppen über Sexualität zu sprechen. Das Problem gibt es ja schon mit Schweizer PatientInnen, in Migrationsgruppe ist es noch zugespitzt. Das hat auch damit zu tun, dass in den Heimatländern normalerweise überhaupt nicht mit dem Arzt über Sexualität gesprochen wird. Und wenn, dann nur verklausuliert, so dass man erst mal verstehen muss, wovon der Patient redet.
Es ist viel die Rede davon, dass Menschen aus Afrika mehr und gleichzeitige Partnerschaften haben. Kommen Sie mit ihren PatientInnen darauf zu sprechen?
Selten direkt, aus den schon genannten Gründen. Aber wenn ich den Eindruck bekomme, dass das eine Rolle spielt, dann versuche ich, besonderes Gewicht auf die Prävention und die funktionierende Therapie zu legen. Mir scheint, dass man in diesem Bereich schon früh Geschirr zerschlagen hat, weil viele Afrikaner glauben, dass man ihnen die Schuld an der Aids-Epidemie in die Schuhe schiebt und ihnen erst noch unmoralisches Verhalten unterstellt. Das macht die Diskussion über Risikoverhalten und Schutz schwierig.
Kommen die Patientinnen regelmässig zur Kontrolle?
Insgesamt nicht weniger als andere PatientInnen, wenn man bedenkt, dass sich für MigrantInnen diesbezüglich oft spezielle Herausforderungen stellen. Personen in Asylverfahren sind in der Regel am besten versorgt sind, weil andere Akteure einen grossen Teil der Organisation und der Finanzierung übernehmen. Wenn jemand dann eine Aufenthaltsbewilligung hat und plötzlich für alles selber zuständig ist, kommt es vor, dass Probleme mit der Krankenkasse, oder mit der Therapie entstehen. Das hat meistens mit der wirtschaftlichen oder sozialen Situation dieser Personen zu tun. In diesen Belangen müssen wir unterstützend wirken und die Situation der Betroffenen immer wieder erfragen, sie entsprechend informieren und an die richtigen Stellen verweisen.
Werden Sie dabei unterstützt?
Ja, mit den Übersetzungen und für viele Belange im Asylverfahren durch die Caritas, dann auch durch die Aidshilfe, durch die Sozialämter. Aber es ist natürlich auch für uns ein Zusatzaufwand.
Für Personen in Asylverfahren ist die mögliche Rückführung ein wichtiges Thema. Sprechen Sie mit Ihren PatientInnen über diese Möglichkeit und die Optionen für die Therapie?
Wenn es nötig ist. Normalerweise erfahre ich den Stand der Dinge von den PatientInnen. Ausserdem muss ich im Abschiebefall ja auch medizinische Informationen liefern. Leider kommt es aber vor, dass ein Patient plötzlich nicht mehr auftaucht. Dann muss ich annehmen, dass die betroffene Person heimgeschickt wurde. Was mich diesbezüglich stört, ist der Sachverhalt, dass die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration im Einzelfall für mich nicht transparent sind. Ich kenne die Kriterien nicht, nach denen die medizinischen Optionen eines Patienten in seinem Heimatland beurteilt werden. Das ist für mich als behandelnder Arzt unbefriedigend.
Was muss gegeben sein, damit mit einer zureichenden therapeutischen Versorgung von HIV-PatientInnen in ihren Heimatländern gerechnet werden kann?
Abgesehen von den politischen Situationen in den einzelnen Ländern: Wir wissen ungefähr, welche Medikamente und welche diagnostischen Mittel in welchen Ländern und Regionen verfügbar sind. Die therapeutischen Optionen sind in Afrika, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nicht mit unseren Verhältnissen vergleichbar, obwohl sich die Bedingungen in jüngster Zeit stark verbessert haben. Generell gibt es erstens wenig Auswahl bei den Wirkstoffen und zweitens fehlen oft die Erfahrungen und die medizinischen Möglichkeiten für Second-Line-Therapien (2). Für die allermeisten HIV-PatientInnen gibt es also viel weniger Therapieoptionen. Das müssten wir schon hier berücksichtigen können. Zum Beispiel, indem wir PatientInnen auf bestimmte, dort erhältliche Medikamente einstellen, oder indem wir eine Second-Line-Therapie schon hier einleiten, und zwar mit dort erhältlichen Wirkstoffen.
Lieber Herr Frei, ich danke Ihnen für dieses interessante Gespräch.
Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Second-Line-Therapie: Therapieumstellung, die in der Regel nach einem ersten Therapieversagen vorgenommen wird. Die wichtigsten Gründe sind ein Ansteigen der Virenlast aufgrund einer Resistenzenbildung oder die Unverträglichkeit eines HIV-Medikaments.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Es sind noch immer verbreitete Annahmen, dass das sexuelle Verhalten von Menschen in der Region Subsahara-Afrika sich von dem anderer Weltregioen unterscheide und dass dies ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Grund für die massiven HIV-Epidemien in diesen Ländern sei. Nach heutigem Wissensstand sind vermutlich beide Annahmen falsch. Dennoch gibt es diverse Arten multipler Partnerschaften, die für die HIV-Prävention nicht bedeutungslos sind. Die HIV-Verhaltensprävention sollte ihre Ressourcen auf die Informierung über HIV-Risiken in sexuellen Netzwerken und auf die Förderung von individuellem Schutzverhalten richten.
Männer und Frauen aus afrikanischen Ländern, vor allem aus der Region Subsahara, haben durchschnittlich nicht mehr lebenzeitliche sexuelle PartnerInnen als Menschen in anderen Weltregionen, sondern eher weniger. Sie haben möglicherweise, speziell in Ländern südlich der Sahara, häufiger mehrere PartnerInnen zur gleichen Zeit. Multiple Partnerschaften (engl. concurrent partnerships, oder concurrency) können unterschieden werden von "seriell-monogamen" Partnerschaften (in denen eine neue Partnerschaft zeitlich nach der vorherigen kommt), wie sie in der westlichen Welt verbreitet sind. Diese Sachverhalte haben sich aus Studien in Afrika ebenso wie in westlichen Ländern (ausser in der Schweiz, wo solche Studien fehlen) ergeben (1). Allerdings wurde die tatsächliche Verbreitung und die epidemiologische Bedeutung multipler Partnerschaft auch angezweifelt - inklusive der Schlussfolgerungen, die sich daraus für die Prävention zu ergeben scheinen, dass nämlich multiple Partnerschaften mit den Mitteln der Prävention zu bekämpfen seien. (2)
Netzwerke
Theoretisch ist einleuchtend, dass ein Netzwerk gleichzeitiger sexueller Partnerschaften die Ausbreitung von HIV und STIs massiv begünstigen kann (3). Im Fall von HIV hat das vor allem mit der Primoinfektion zu tun: wird eine Person innerhalb eines sexuellen Netzwerkes mit HIV infiziert, besteht ein unmittelbares Transmissionsrisiko gleichzeitig für eine Gruppe von Menschen, und nicht nur für einen Partner wie bei seriell-monogamen Beziehungen (4).
Viele HIV- und STI-ExpertInnen stellen einen direkten Zusammenhang her zwischen multiplen Partnerschaften und der überdurchschnittlichen HIV- und STI-Prävalenz in Susahara-Afrika. Ein solcher ist aber bis jetzt, trotz verschiedener Untersuchungen, nicht nachgewiesen worden. Im Gegenteil sieht es so aus, dass die HIV-Prävalenz nicht in den Regionen erhöht ist, in denen die Beziehungsform multipler Partnerschafte vorherrscht. Teilweise scheint es sich sogar umgekehrt zu verhalten. Zudem besteht kein einheitliches Verständnis davon, was als multiple Partnerschaft gilt. Z.B. darüber, wie lange die Gleichzeitigkeit anhalten muss, damit der Begriff angewandt werden kann und ob traditionale Formen wie z.B. die Polygamie, auch darunter fallen sollen. Letzteres wäre problematisch, da für diese Formen ausdrücklich kein Zusammenhang mit der Ausbreitung von HIV gefunden werden kann (4).
Kein einzelner Faktor
Nach wie vor gibt es keine einheitliche und gut akzeptierte Erklärung für die ausserordentlichen HIV-Epidemien in Subsahara-Afrika, bzw. für die markanten Unterschiede zwischen regionalen Epidemien. Das ist wohl darum so, weil es keinen einzelnen Faktor gibt, der sie alle erklärt. Vielmehr spielen mehrere Faktoren eine wichtige Rolle und nicht überall sind es dieselben. Gut akzeptiert sind die Annahmen, dass die biologischen Faktoren STIs (insbesondere HSV-2 und Trichomonas) und männliche Beschneidung eine wichtige Rolle spielen. Ebenfalls eine wichtige Rolle dürfte das vergleichsweise tiefe Niveau der Therapieversorgung spielen. Damit kann auch die präventive Wirkung der ART sich nicht richtig entfalten.
Auch verhaltensbezogene Faktoren spielen eine Rolle. Zum einen gibt es grosse Unterschiede bei der Verbreitung von Safer Sex. Zum zweiten sind Frauen in Subsahara-Afrika sexuell vulnerabler als in westlichen Ländern und dementprechend durchschnittlich viel höher von HIV betroffen als Männer.
Schliesslich gibt es Forschende, welche den Übertragungsweg via verseuchter Spritzen (sowohl durch Drogengebrauch als auch im Gesundheitswesen) als wichtigen und unterschätzten Faktor in den afrikanischen Epidemien sehen. Dieser Standpunkt wird ergänzt durch den anderer Experten, die überzeugt sind, dass sexuelle Faktoren in Afrika sich in nichts grundlegend von anderen Ländern unterscheiden und dass dementsprechend auch keine Sondermassnahmen in diesem Bereich Sinn machen würden.
Was heisst das für die Prävention?
In Bezug auf die Thematik multipler Partnerschaften liegt eine zentrale Schlussfolgerung für die Prävention auf der Hand: es ist vermutlich einfacher, billiger und wirksamer, monogame PartnerInnen, vor allem Frauen, zu mehr Selbstschutz zu motivieren und bei der Entwicklung der entsprechenden Kompetenzen zu unterstützen, als bei Personen, die viele Partner haben, eine Verhaltensänderung herbeizuführen.
Eine zweite Schlussfolgerung müsste sein, dass Menschen mit vielen PartnerInnen, und ebenso deren Partner, angemessen über die Risiken, denen sie sich möglicherweise aussetzen, informiert werden. Z.B. könnte, so wie das in westlichen Ländern für schwule Männer gemacht wurde (6), gezielt über die Problematik der Primoinfektion und sexuelle Netzwerke kommuniziert werden.
Schliesslich sollten sich PräventionistInnen hüten davor, das Phänomen multipler Partnerschaften ins Zentrum von Präventionsüberlegungen zu stellen. Erstens erlaubt die Faktenlage dies nicht und zweitens wird dadurch sexueller Stigmatisierung Vorschub geleistet, die sinnvoller Präventionsarbeit im Weg steht.
Dies hindert allerdings nicht, Personen oder Gruppen auf die Thematik multipler Partnerschaften aufmerksam zu machen und auf die entsprechenden Risiken aufmerksam zu machen. In der Schweiz haben wir, im Zusammenhang mit der HIV-Epidemie unter schwulen Männern, mit dieser Thematik viel Erfahrungen und Kompetenzen versammelt und wir haben in Projekten und Kampagnen erfolgreich damit operiert. Dieses Know-How kann und soll auch in anderen Gruppen zur Anwendung kommen, wenn wir es dort mit ähnlichen Phämonenen zu tun haben.
Rainer Kamber, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Wellings K, Collumbien M, Slaymaker E et al., «Sexual behavior in context: A global perspective», Lancet, 2006, 368, S. 1706–28.
(2) Mattson CL, Bailey RC, Agot K et al., «A nested case-control study of sexual practices and risk factors for prevalent HIV-1 infection among young men in Kisumu, Kenya», in Sex Transm Dis, 2007, 34(10), S. 731–36; Sandoy IF, Dzekedzeke K, Fylkesnes K, «Prevalence and correlates of concurrent sexual partnerships in Zambia», AIDS Behav, 2010, 14(1), S. 59–71.
(3) Lagarde E, Auvert B et al., «Concurrent sexual partnerships and HIV prevalence in five urban communities of Sub-Saharan Africa», in AIDS, 2001, 15(7), S. 877–84.
(4) Reniers G, Watkins S, Lurie MN et al., «Polygyny and the spread of HIV in sub-Saharan Africa: a case of benign concurrency», AIDS, 2010, 24(2), S. 299–307.
(5) Buvé A, Caraël M, Hayes RJ et al., «The multicentre study on factors determining the differential spread of HIV in four African cities», AIDS, 2001, 15(suppl. 4), S. S127–31.
(6) Potterat JJ, Gisselquist D, Brody S, «Still Not Understanding the Uneven Spread of HIV Within Africa», Sex Trans Dis, 2004, 31(6), S. 365.
(7) Lurie MN, Rosenthal S, «Concurrent Partnerships as a Driver of the HIV Epidemic in Sub-Saharan Africa? The Evidence is Limited», AIDS Behav, 2010, 14(1), S. 17–24.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Basil Nkedi ist 38-jährig und lebt und arbeitet seit 2008 in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso. Der Kameruner machte eine Tänzerausbildung und tourte jahrelang mit Tanzkompanien durch ganz Afrika. Unter anderem lebte er lange in Côte d'Ivoire und Äquatorialguinea. Nach einer Rückenverletzung musste er das Tanzen mehr und mehr zurückstellen. Heute arbeitet er als Coiffeur und Make-Up Artist.
Schwule Männer werde in den meisten afrikanischen Ländern massiv diskriminiert und in einigen Ländern sogar strafverfolgt. Auch heute noch kommt es in diesen Ländern zu homophoben Ausschreitungen. Für die HIV- und STI-Prävention ist es problematisch, wenn Menschen im Verborgenen leben und dadurch für Information und Unterstützung nicht erreichbar sind. Das Gespräch wurde in Ouagadougou geführt.
Lieber Basil, wie ist das Leben in Burkina für Dich?
Die Homosexualität ist tabu. Und Burkina ist noch tolerant im Vergleich zu Ländern wie Uganda, in dem die gleichgeschlechtliche Liebe verfolgt wird und schwule Männer sogar zum Tod verurteilt werden. Côte d'Ivoire ist liberaler, ähnlich wie Südafrika.
Wie hast Du gemerkt, dass Du schwul bist?
Ich war schon als Neunjähriger anders. Ich interessierte mich mehr für die Mädchenwelt. Damals glaubte man, das würde ich schon noch ändern, aber das geschah nicht. Sogar als ich den Stimmbruch bekam, war ich sehr feminin. Für mich ergab sich das alles sehr natürlich. Mit 17 hatte ich die erste sexuelle Beziehung, mit einem Franzosen. Da war mir klar, dass ich anders bin als alle meine Freunde.
Und schüchtern warst Du nicht?
In Afrika trampelt man immer auf den Schwächsten rum und das habe ich früh gelernt. Wenn man das zulässt, dann hat man kein schönes Leben. Von meiner Mutter habe ich eine starke Persönlichkeit geerbt und das hat mir immer sehr geholfen.
Magst Du noch mehr von deiner ersten Beziehung erzählen?
Ich war damals im Gymi. Eines Tages kam ich aus der Schule und es regnete in Strömen. Ein Wagen fuhr an mir vorbei und spritze mich voll. Der Fahrer kehrte um, entschuldigte sich und fragte, ob ich mit ihm fahren wolle. Ich ging mit und auf der Fahrt bemerkte ich, dass er mich immer ansah. Ich habe mir aber nichts anmerken lassen.
Er lud mich dann zu sich ein, um eine Cola zu trinken. Bei ihm zuhause haben wir es uns gemütlich gemacht. Er hat mich gestreichelt und da bin ich zu mir gekommen habe mir gesagt: "Einmal ist immer das erste Mal!" Für mich wurde ja ein Traum wahr, endlich mit einem Mann zusammen zu sein. So war das erste Mal.
Wir waren drei Jahre zusammen, haben uns aber nur im Versteckten getroffen. Er war ein wunderschöner Mann. Er hat in Kamerun ein grosses nationales Unternehmen repräsentiert.
Hast Du mit jemandem darüber gesprochen?
Im Gymi gab es einen Typen, der so war wie ich. Wir haben uns beim Sport kennengelernt. Nach und nach haben wir einander unsere Geheimniss anvertraut, er erzählte von seinen Abenteuern und ich von meinen. Wir sind dicke Freunde geworden.
Habt ihr auch mal über Schutz gesprochen?
Ob wir gewusst haben, dass man sich schützen sollte? Er vielleicht, ich war darin aber eher naiv. Ich hatte am Anfang immer ungeschützte Beziehungen.
Hattet ihr in der Schule Aufklärungsunterricht?
Ja, im Gymi hatten wir das, es war ja Äquivalent zu den Gymis in Frankreich. In den Naturwissenschaften hat man uns alles erklärt, den Schutz zwischen Männern, zwischen Männern und Frauen.
Wie ging es mit deinem ersten Freund weiter?
Er ging zurück nach Frankreich. Das war wirklich hart. Wir haben uns dann lange Zeit Briefe geschrieben, es gab ja noch keine Emails oder Handys. Aber Distanzbeziehungen funktionieren ja meistens nicht. Zwei Jahre später haben wir uns getrennt.
Dann habe ich einen Zahnarzt kennengelernt. Mit ihm war ich lange zusammen und wir lebten zusammen in Äquatorialguinea. Es ging dann aber auseinander, weil er sehr untreu war. Für mich ist jede Beziehung wie eine Ehe: man bleibt zusammen durch dick und dünn. Darum hielt ich es mit ihm nicht mehr aus.
Wie hast Du eigentlich von HIV erfahren?
Das wurde mir sehr früh bewusst. Seit meinen Zwanzigern mache ich jedes Jahr einen Test. Es wurde mir auch klar, wie wichtige das Präservativ ist, und dass man nicht einfach auf die Gesundheit des Partners vertrauen kann. Letztlich weiss man ja nicht, ob jemand etwas hat, auch wenn er super aussieht und ganz cool ist. Ausserdem sind die Medien heute voll mit Aids. Wenn das heute einer nicht mehr Ernst nimmt, dann stimmt wohl etwas nicht mit ihm. Wir sehen hier ja die Menschen mit HIV und die Aidskranken im Fernsehen und auf der Strasse. Wie sind umgeben davon. Mein Mitbewohner ist positiv. Heute kann man das wirklich nicht mer ignorieren. Ich habe gerade vor drei Wochen den Test gemacht, Gott sei Dank kam er wieder negativ heraus.
Gibt es eigentlich schwulenfreundliche Ärzte?
Nicht in Burkina, hier musst Du ins Spital. Die meisten Männer vermeiden es, wegen jeder kleinen Verletzung ins Spital zu gehen. Dort machen Sie dir noch Vorwürfe: "Du warst mit einem Jungen zusammen? Schämst Du dich nicht?"
In Côte d'Ivoire gibt es die "petites cliniques", ein Spezialangebot für Schwule und für Sexworkerinnen. Am Dienstag gehen die Männer, am Mittwoch die Frauen. Dort kannst Du mit einem Arzt sprechen, dem Du alles sagen kannst. Diese Ärzte helfen und beraten wirklich, und man kann dort Kondome und Gleitmittel bekommen.
Sind die Homosexuellen in Kamerun organisiert?
Fast überall in Afrika verheimlichen schwule Männer ihre Identität aus Angst. Und je mehr Angst man hat, umso unwissender bleibt man. Je geheimer man lebt, umso schwieriger ist es, sich zusammenzutun, zu organisieren. Sogar die Schwulen misstrauen einander in Afrika. Da gibt es noch viel zu tun.
Aber die Gesellschaften veränder sich auch. Zum Beispiel erfahren die Menschen doch heute viel mehr per Internet.
Ja und Nein. Als meine Familie verstanden hat, dass ich Männer liebe, haben sie mich ausgestossen. Das war wirklich hart. Andererseits sind die Afrikaner und die afrikanischen Familien stark aufs Materielle, aufs Geld fixiert. Heute bin ich das Lieblingskind weil ich am besten verdiene."Er hat ja Geld, da kann er schon etwas entbehren, 10'000 Franc für den, 10'000 Franc für diesen." Wenn Du ihnen sagst, dass Du schwul bist, dann tun sie schockiert. Aber sobald Du Geld hast, redet keiner mehr davon.
Meinst Du, dass sich das alles mal ändern wird.
Ja, aber das braucht Zeit. In Südafrika können schwule Paare heute heiraten. Wenn die es begriffen haben, dann wird es wohl in Côte d'Ivoire auch bald soweit sein. In Uganda dauert es wohl etwas länger. Kürzlich habe ich in Uganda Radion gehört und gleich wieder ausgemacht. Ich bin ein Gläubiger Menschen und ich sage mir immer: "Der Gott, der uns erschaffen hat, verstösst niemanden." Er kennt uns und unser Schicksal.
Haben sich in Afrika die Wahrnehmungen und Einstellungen gegenüber Aids verändert?
Ja, ich glaube, dass die heutigen Jungen es verstanden haben. Wenn man heute ausgeht und mit jemandem nach Hause, dann fragen die meisten nach dem Präservativ. Ich glaube, auch die HIV-Positiven werden etwas anders wahrgenommen in Afrika. Mein Wohnpartner ist positiv, wir essen aus demselben Teller, umarmen uns, trösten uns. Er verlangt von seinem Partner immer zwei Kondome gleichzeitig.
Das wichtigste ist sicher, dass Aids in Afrika heute weltweit wahrgenommen wird und dass man alles unternimmt, um diese Plage zu besiegen.
Lieber Basil, danke für dieses interessante, persönliche Gespräch.
Brigitta Javurek, Aids-Hilfe Schweiz
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Nach der Definition von UNAIDS ist die Schweiz von einer "konzentrierten" HIV-Epidemie betroffen. Das heisst, dass das Virus nicht gleichmässig in der ganzen Bevölkerung verbreitet wurde, sondern in einer oder mehreren Bevölkerungsgruppen deutlich häufiger vorkommt. In der Schweiz gibt es drei Gruppen, bei denen die Prävalenz höher als 5% beträgt: Neben Schwulen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben sind es Migrantinnen und Migranten aus Ländern mit generell erhöhter Prävalenz und Menschen, welche Drogen intravenös konsumieren.
Die Prävalenz von HIV ist in den Ländern südlich der Sahara in den jeweiligen Bevölkerungen generell erhöht – UNAIDS spricht von einer „generalisierten“ Epidemie. Gruppen von MigrantInnen können – müssen aber nicht – die Prävalenz in ihrem Herkunftsland aufweisen. Die MigrantInnen aus Subsahara-Afrika sind in der Schweiz die zweitgrösste, von HIV besonders betroffene Gruppe. Das BAG rechnet mit weniger als 100'000 Personen aus diesen Ländern, welche sich in der Schweiz aufhalten. Die Zahl der Männer, die mit Männern Sex haben, ist nicht bekannt, wird aber auf deutlich über 10'000 geschätzt. Und es gibt ca. 20'000 bis 30'000 Menschen, welche Drogen intravenös konsumieren oder dies lange getan haben.
Zielgruppenspezifische Prävention!
Das Schweizerische HIV-Präventionskonzept der drei Ebenen der Präventionskommunikation wurde schon Mitte der 80er Jahre entwickelt: Grundinformation für die ganze Bevölkerung, zielgruppenspezifische Information und Motivation für besonders gefährdete Gruppen sowie individuelle Beratung und Begleitung für besonders gefährdete und/oder betroffene Menschen. Die Mobilisierung und Selbstorganisation von homosexuellen Männern Mitte der 80er Jahre und die von ihnen initiierte Gründung von Aids-Hilfen ist zum Modellfall von Public Health geworden. Exemplarisch dabei ist die Akzeptierung des Problems durch die betroffene Gruppe: „Ja, wir haben ein Problem und wir organisieren die Lösung selbst“. Selbstorganisation und Mobilisierung folgten diesem öffentlichen Bekenntnis Damit verlor die Stigmatisierung an Kraft, und die Gesellschaft entwickelte Respekt vor dieser vorher diskriminierten Gruppe.
MigrantInnen aus Afrika südlich der Sahara
In den letzten 25 Jahren Aids-Arbeit in der Schweiz hat sich der Fokus der Aufmerksamkeit immer wieder verschoben: Mitte der 80er Jahre dominierte die Angst vor der "Schwulenseuche". Dann rückten Spritzentausch, Drogenkonsum, Harm Reduction (Bundesterrasse, Platzspitz und Letten) ins Zentrum des Interesses. Die 90er Jahre waren geprägt von der Angst, HIV könnte sich doch noch in der ganzen Bevölkerung verbreiten. Ab dem Jahr 2000 erschreckte die starke Zunahme von neu gemeldeten heterosexuell übertragenen HIV-Infektionen bei MigrantInnen aus Subsahara-Afrika und die damit verbundene Angst, dass gewisse Kreise mit diesem Thema Ausländer-Politik machen wollten. Ein Rapid Assessment (1) war die wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung des Pilotprojekts „Afrimedia“ durch das Schweizerische Rote Kreuz mit fachlicher Unterstützung durch das ehemalige Schweizerische Tropeninstitut in Basel. Das Projekt Afrimedia, mittlerweile bei der Aids-Hilfe Schweiz angesiedelt und weiterhin vom BAG finanziert, gilt als Modellfall eines zielgruppenspezifischen Präventionsprojektes, welches mit MultiplikatorInnen aus der Zielgruppe arbeitet.
In Zukunft: Prävention durch die Betroffenen selbst
Das Projekt Afrimedia wurde im Rahmen der externen Evaluation der Umsetzung des Nationalen HIV/Aids-Programms 2004 – 2008 ausdrücklich gelobt und zur Weiterführung und -entwicklung empfohlen.(2) Heute erfüllt das Projekt die Anforderung, dass Prävention nicht für die Zielgruppe sondern mit ihr entwickelt und organisiert wird (Partizipation). Richtig erfolgreich wird Afrimedia aber erst dann, wenn es dem Projekt gelingt, die Zielgruppe so zu mobilisieren, dass die Prävention von der Zielgruppe selber übernommen wird. Dazu braucht es zweierlei: Einerseits die Bereitschaft der Zielgruppe, das Problem HIV für sich selbst zu akzeptieren und „dazu zu stehen“, auch wenn weiterhin begründete Ängste vor Diskriminierung und Stigmatisierung bestehen. Andererseits müssen die hiesigen Profis der HIV-Arbeit umdenken lernen und alle eigenen Bemühungen am Ziel des Empowerments der Zielgruppe messen lassen. Nur Hilfe zur Selbsthilfe und Unterstützung bei der Stärkung der Zielgruppe im Blick auf Selbstmanagement der Projekte ist längerfristig nützliche und nachhaltige Hilfe. Finanzielle Ressourcen müssen in Zukunft direkt in die Zielgruppe bzw. deren Projekte fliessen und die personellen Ressourcen aus der Zielgruppe rekrutiert werden.
Leitung des Nationalen Programmes HIV/STI
Bundesamt für Gesundheit, Bern
(1) Zuppinger B, Kopp C, Wicker H-R, "Interventionsplan HIV/Aids-Prävention bei Sub-Sahara MigrantInnen", Rapid Assessment im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit, Bern, Institut für Ethnologie, 2000, http://www.bag.admin.ch/evaluation/01759/02069/02191/index.html?lang=de.
(2) Rosenbrock R, Almedal C, Elford J et al., "Beurteilung der Schweizer HIV-Politik durch ein internationales Expertenpanel", Studie zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit, Horgen: Syntagma GmbH, 2009, http://www.bag.admin.ch/evaluation/01759/02062/06256/index.html?lang=de.
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
Das 2004 vom BAG durchgeführte Gesundheitsmonitoring der Schweizerischen Migrationsbevölkerung (GMM) kommt zu klaren Ergebnissen: Gesundheitswerte, -risiken und –verhalten fallen bei grossen Teilen der Migrationsbevölkerung weniger gut aus als bei SchweizerInnen. Das trifft auch in Bezug auf HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen zu. Besonders betroffen sind MigrantInnen aus dem südlichen Afrika.
Migration an sich macht nicht krank. Migrationszusammenhänge können sich allerdings ungünstig auf die Gesundheit, bzw. das Gesundheitsverhalten auswirken – wie der GMM (1) zeigt. So finden sich z.B. viele MigrantInnen in bildungsferneren Schichten und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen wieder. Hinzu kommen zum Teil schlechte Umwelt- und Lebensbedingungen im Herkunftsland, was den Gesundheitszustand schon vor der Migration prägt. Ebenso können negative Erlebnisse während der Migration und die Entwurzelung aus der vertrauten Umgebung sowohl das physische wie das psychische Wohlbefinden negativ beeinflussen. Und nicht zuletzt spielt der Zugang zum medizinischen System im Gastland eine grosse Rolle: er kann durch sprachliche Schwierigkeiten, aber auch durch rechtliche Unsicherheit – etwa in Bezug auf den Aufenthaltsstatus – erschwert sein.
Migration & HIV
Die Schweiz ist ein Einwanderungsland.(2) Was für alle Belange der öffentlichen Gesundheit gilt, betrifft auch die HIV-Arbeit: die Migrationsbevölkerung muss als relevante Grösse in sämtliche Überlegungen miteinbezogen werden. Die epidemiologischen Zahlen unterstreichen den Handlungsbedarf: Von 4346 ärztlichen Ergänzungsmeldungen für HIV-Diagnosen, die zwischen 2003 und 2009 eingegangen sind, betreffen 2291 MigrantInnen (52,8%).(3) Nebst der HIV-Prävalenz in einzelnen Gruppen ist die Vulnerabilität (Verwundbarkeit) gegenüber HIV ein zentrales Problem. Sie ist besonders hoch bei sozial benachteiligten Menschen, die in Abhängigkeitsverhältnissen leben. Das gilt für viele Personen, die sich im Asylprozess befinden und für viele Sans-Papiers. Noch ausgeprägter ist die Situation von Migrantinnen im Sexgewerbe: zu den erwähnten Kriterien der erhöhten Vulnerabilität kommt noch ein beruflich bedingtes Risiko gegenüber HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STI) hinzu.
Am meisten von HIV betroffen sind MigrantInnen aus Ländern südlich der Sahara (Subsahara-MigrantInnen/SSM). Die Erklärung ist naheliegend: In vielen Ländern der Subsahara-Region gibt es HIV-Epidemien mit Prävalenzraten bei der erwachsenen Bevölkerung von 5 bis über 15% (in der Schweiz: ca. 0.5%). In der schweizerischen HIV-Arbeit kommt dieser Gruppe deshalb eine hohe Priorität zu.
MigrantInnen aus Subsahara-Afrika
Im Jahr 2008 lebten 50‘277 Staatsangehörige aus Subsahara-Afrika in der Schweiz – Sans-Papiers und eingebürgerte Personen nicht mit eingerechnet. Davon waren 12‘001 Niedergelassene (Ausweis C), 359 Kurzaufenthalter (Ausweis L) und 19‘174 Aufenthalter (Ausweis B), 3309 internationale Funktionäre und Diplomaten (EDA-Ausweis) sowie 15‘150 Personen im Asylprozess (7‘780 Asylsuchende mit Ausweis N und 7‘370 vorläufig Aufgenommene mit Ausweis F). Mehr als in jeder anderen MigrantInnen-Gruppe.(4) Menschen aus allen Ländern der Subsahara-Region befinden sich in der Schweiz, wobei einige Nationen besonders stark vertreten sind: die demokratische Republik Kongo, Somalia, Angola, Kamerun, Eritrea und Äthiopien (je zwischen 4‘000 und 6‘500 Menschen). (4) Insgesamt ist die SSM-Bevölkerung jung, mit über 80% unter 40 Jahren. Über die Hälfte lebt in den Agglomerationen Genf, Lausanne und Zürich. (5)
Im Vergleich zu SchweizerInnen und anderen MigrantInnen haben SSM eine schlechtere Stellung auf dem Arbeitsmarkt. Gründe dafür sind einerseits der verhältnismässig hohe Anteil der Personen mit maximal obligatorischer Schulbildung (37.7%), aber auch der Umstand, dass viele SSM noch nicht lange in der Schweiz sind. Der grösste Teil ist in wenig qualifizierten Berufen (Service, Verkauf etc.) tätig. Entsprechend niedrig sind auch die Einkommen: sie verdienen im Schnitt ein Drittel weniger als SchweizerInnen. Und auch die Arbeitslosenquote ist mit über 20% deutlich höher als bei anderen Gruppen.(5)
Sexuelle Gesundheit von SSM
Die sexuelle Gesundheit der SSM ist in erhöhtem Mass gefährdet. Das zeigen die HIV-Meldungen, aber auch verschiedene Studien, die weitere Aspekte der sexuellen Gesundheit untersuchen. Im Jahr 2002 wurde ein markanter Anstieg positiver HIV-Tests bei SSM beobachtet. Seither ist ihr Anteil an den Fällen mit heterosexueller Übertragung hoch geblieben. Unklar ist, wie viele Personen bereits mit einer HIV-Infektion eingereist sind, und wie viele Personen sich in der Schweiz angesteckt haben.
Die epidemiologische Datenlage zu STIs ist weniger umfangreich und detailliert als zu HIV. Eine 2008 an der gynäkologischen Abteilung des Unispitals Lausanne durchgeführte Studie zeigte jedoch, dass deutlich mehr Subsahara-Migrantinnen mit einer STI infiziert wurden als Schweizerinnen und – abgesehen von Asiatinnen – andere Migrantinnen.(8)
Bei weiteren Aspekten der sexuellen Gesundheit ergibt sich das gleiche Bild. Die Zahl der Totgeburten sowie die neonatale Mortalität (Tod in den ersten 28 Tagen nach der Geburt) von Säuglingen afrikanischer Mütter sind rund doppelt so hoch wie bei jenen von Schweizer Müttern. Und Frauen afrikanischer und sri lankischer Herkunft gebären am häufigsten Kinder mit geringem Geburtsgewicht.(9) Zudem lassen Frauen aus der Subsahara-Region deutlich mehr Schwangerschaftsabbrüche vornehmen als Einheimische, wie eine Studie für den Kanton Waadt zeigt.(10)
Stéphane Praz, Aids-Hilfe Schweiz
(1) Bundesamt für Gesundheit BAG (2007): Wie gesund sind Migrantinnen und Migranten? Die wichtigsten Ergebnisse des «Gesundheitsmonitoring der schweizerischen Migrationsbevölkerung»
(2) 2008 betrug der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz 22.6% (Quelle: Bundesamt für Statistik), in den EU-Ländern im Durchschnitt 6,2% (Quelle: Eurostat)
(3) Quelle: Arztmeldungen BAG, Datenanalyse AHS
(4) Bundesamt für Statistik
(5) Efionayi-Mäder, Denise (2009): Migrantes et migrants d’Afrique subsaharienne en Suisse, Université de Neuchatel
(6) BAG (2003): Anstieg der positiven HIV-Tests im Jahr 2002, BAG-Bulletin 16/2003
(7) BAG (2010): HIV/Aids in der Schweiz am 31. März 2010, BAG-Bulletin 18/2010
(8) Dommange et al. (2009): Système de suivi de la stratégie de lutte contre le VIH/Sida en Suisse 2004-2008 : Etude de faisabilité pour une enquête « Sentinelle » auprès des femmes migrantes – d’origine subsaharienne en particulier, Lausanne : Lausanne : Institut universitaire de médecine sociale et préventive
(9) Bollini P., Wanner Ph. (2006): Santé reproductive des collectivités migrantes. Disparités de risques et possibilités d‘intervention. Neuenburg : Swiss Forum for Migration Studies
(10)Balthasar H., Spencer B. (2008) : Interruptions de grossesse dans le canton de Vaud, Lausanne : Institut universitaire de médecine sociale et préventive
Swiss Aids News 2, Juni 2010, www.aids.ch
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