Alle paar Jahre mal kommt ein Lebenszeichen aus der AAS-Ecke: Wissenschaftlich unhaltbare Informationen, welche HIV-positive Menschen diskriminieren und die offizielle Schweizer HIV-Politik konsequent nicht beachten. Dahinter steht der dubiose Verein „AIDS-Aufklärung Schweiz“ (AAS). Ein Blick in das letzte Pamphlet.
HIV/Aids – AKTUELL; Alles über die HIV-Infektion – das tönt gut, und ist ansprechend aufgemacht. Stutzig wird der aufmerksame Leser ab Seite 25, im Kapitel „HIV-Übertragung“. Da steht unter „Oralverkehr“, Zitat: „Er weist ebenfalls ein HIV-Übertragungsrisiko auf. Oralverkehr bedeutet lecken oder saugen am Penis, and der Vagina oder am Anus. Bei all diesen Sexualpraktiiken besteht zwar ein deutlich geringeres Ansteckungsrisiko als beim Vaginal- und Analverkehr, aber mehrere Studien belegen erfolgte HIV-Übertragungen.“ Besagte Studien werden nicht zitiert. Die offizielle Präventionspolitik der Schweiz beschränkt sich seit vielen Jahren auf die einfache Empfehlung „bei Oralverkehr kein Sperma oder Menstruationsblut in den Mund“.
Aber damit nicht genug, es folgt: „Zungenküsse: Das Risiko einer HIV-Ansteckung bei Zungenküssen ist sehr klein. Dennoch könnten bei längeren Küssen dieser Art HIV-Viren durch Wunden im Mund- und Lippenbereich von einem infizierten Partner zum anderen gelangen. Aufgrund dieser möglichen Ansteckungsgefahr wird von Zungenkössen mit infizierten Partnern abgeraten.“ Das ist schon sehr viel Unsinn in drei Sätzen, und natürlich wieder nicht belegt.
Auf Seite 29 kommt es ganz dick: „Für Menschen mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis gibt es sichere Methoden, einen Liebespartner zu wählen – ohne das Risiko einer HIV-Infektion. Heutzutage birgt eine neue sexuelle Beziehung grundsätzlich die Gefahr einer HIV-Infektion in sich. Aus diesem Grund ist es wichtig, den Partner sorgfältig auszuwählen. Bei einem nicht-infizierten Partner ist eine Ansteckung ausgeschlossen. (...) Sorgfältige Partnerwahl bedeutet, einen Partner zu suchen, der nicht HIV-infiziert ist, zu einem passt (...). Menschen mit HIV taugen also nicht für eine Partnerschaft mit Leuten „mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis“.“ Da findet sich kein Wort zu sicherem Kinderkriegen trotz HIV, zum EKAF Statement und dem verschwindend kleinen Übertragungsrisiko unter Therapie. Dafür wird auf Panik gemacht (HIV-Risiko bei jeder neuen sexuellen Beziehung) – das mag für schwule Männer noch zutreffen, ist bei Heteros hingegen Fehlanzeige.
Auch zur Sicherheit von Kondomen äussert man sich: „Nur Kondome beim Seitensprung zu verwenden, ohne den Partner darüber zu informieren, ist nicht fair, da eine Ansteckung nicht sicher ausgeschlossen ist.“ Damit wird unterstellt, dass Kondome trotz richtiger Anwendung nicht sicher genug wären. Doch damit nicht genug: „Bei der Reduktion von HIV-Risiken geht es nicht nur darum, die Anzahl Sexulapartner zu reduzieren, sondern möglichst keinen Sexualkontakt zu einem HIV-Infizierten einzugehen.“ Solche Qualifizierungen sind falsch, widersprechen der nationalen HIV-Politik, und sie beleidigen, ja diskriminieren Menschen, die mit HIV leben.
Unbelegte Pseudowissenschaft und Panikmache etwas weiter hinten, wieder zum Kondom: „Das Kondom senkt das Risiko einer HIV-Übertragung wirksam um das 5- bis 10-fache, schliesst es aber nicht ganz aus.“ Das ist so gesagt an den Haaren herbeigezogen und in keiner Weise belegt.
Auf Seite 39 weiss die Broschüre dann auf einmal dass antiretrovirale Medikamente das Ansteckungsrisiko senken – und fährt dann weiter, dass das Ansteckungsrisiko nicht ganz ausgeschlossen sei (das hat auch nie jemand behauptet) und von einer dokumentierten Ansteckung im Jahre 2008 berichtet. Nun, mit dieser dokumentierten Ansteckung hat es seine Tücken; der publizierende Arzt hat sich mittlerweile von seiner damaligen Interpretation distanziert. Weiter schwafelt die Broschüre von Menschen, welche die HIV-Medikamente nicht vertragen, und von solchen, welche wegen Resistenzen keine wirksamen Medikamente mehr hätten. Kein Wort oder Hinweis, dass man Patienten bei Unverträglichkeit umstellt (wir haben ca. dreissig zugelassene Substanzen); und dasselbe auch bei Resistenzen tut. Es gibt heute in der Schweiz kaum einen Patienten mehr, welcher nicht mit einer gut verträglichen Therapie behandelbar ist.
Das unsägliche Pamphlet wurde 2010 in einer Auflage von insgesamt 25'000 Exemplaren in vier Sprachen gedruckt und der Hausarztpraxis beigelegt. Seither liegt es in Arztpraxen auf. Der Präsident der damaligen Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen EKAF, Prof. Pietro Vernazza und die Aids-Hilfe Schweiz haben damals bei den Verantwortlichen der AAS interveniert. Offenbar bekam der Verein kalte Füsse; es wird jetzt eine Neuauflage nachgereicht, welcher der Ärztezeitung im Mai 2012 beigelegt wird. Die übersetzten Ausgaben wurden nicht angepasst – der oben kritisierte Unsinn wird also weiterverbreitet. Im Jahresbericht 2010 beklagt die AAS eine „unerwartet heftige unsachliche Reaktion seitens der Aids-Hilfe Schweiz sowie der EKAF“.
Ein Blick in diese Neuauflage zeigt, dass man zwar auf die allzustossenden und unhaltbaren Behauptungen verzichtet, aber nach wie vor vor einer Liebesbeziehung oder Ehe mit einem HIV-positiven Menschen warnt. Man schürt weiterhin falsche Ängste und verbreitet ein überholtes anachronistisches Weltbild vom Leben mit HIV. Offensichtlich will man zu der von UNAIDS und im nationalen HIV Präventionsprogramm gesetzten Schwerpunkten und Interventionsachsen ein konservatives Gegengewicht setzen. Vor zwei Jahren hat sich die AAS damit blamiert, doch sehr viel glaubwürdiger steht man mit der Neuauflage nicht da.
Wer ist die Aids-Aufklärung Schweiz?
Autor der Broschüre ist ein Dr. med. Kurt April, Psychiater aus Horgen (letzteres wird schamhaft verschwiegen). Die Einleitung schrieb die ehemalige Leiterin des Instituts für medizinische Virologie der Universität Zürich, Frau Prof emeritus K. Moelling. Letztere hat zwar zu HI-Virusreplikation publiziert, doch war sie nie klinisch in der HIV-Therapie tätig.
Die Aids-Aufklärung Schweiz als Herausgeberin ist dem 2002 aufgelösten Verein für psychologische Menschenkenntnis VPM entsprungen (Vereinsgründung 1989, Aktivitäten seit 1985). 1992-1993 erschienen in der Schweizer Presse mehr als 2'700 kritische Artikel zum VPM, fast jeder enthält einen Sektenvorwurf. Der Journalist Hugo Stamm ist der Meinung, dass ehemalige VPM Mitglieder die Aktivitäten des Vereins weiterführen, und die Aids-Aufklärung Schweiz ist offenbar eines der Vehikel. Der heutige Präsident Dr. Kurt April bekennt sich im Gespräch zu seiner Mitgliedschaft im ehemaligen VPM.
Ein Blick auf den Vorstand listet Mediziner, verschweigt aber wohlweislich deren Fachgebiet. Eine kleine Recherche bringt folgendes zutage: Fantacci: Allgemeinmedizin; Holzmann: Orthopäde; Häcki: Gastroenterologe; Schlinkmeier: Gynäkologie; April: Psychiatrie. Weit und breit kein Infektiologe, niemand aus der Schweizerischen Kohortenstudie.
Beim wissenschaftlichen Beirat ist man etwas gesprächiger, aber keiner der genannten Professoren ist in den letzten 12 Jahren an einem HIV-Kongress in Erscheinung getreten. Klinische Erfahrung mit HIV-Patienten hat keine der involvierten Persönlichkeiten.
Zur Transparenz der AIDS-Aufklärung gehört auch, dass Jahresberichte mit Verzögerung publiziert und keine Angaben zur Herkunft der finanziellen Mittel gemacht werden. 2006 und 2007 publiziert man Spendenerträge unbekannter Herkunft über 430'000 und 486'000 Franken; 2008 bis 2010 zwischen 327'000 und 355'000 Franken. Woher kommt dieser Geld? Wer versteckt sich hinter der AAS? Wo und wie werden die erheblichen Mittel gesammelt? Verwechseln ahnungslose Spender die AAS mit der Aids-Hilfe Schweiz?
Die AAS brüstet sich auch mit dem «Special Consultative Status with the Economic and Social Council of the United Nations» (ECOSOC)”. Dieser Status wird aufgrund vager Kriterien jährlich an etwa 600 NGOs vergeben, doch ist nicht klar, mit welcher Unterstützung die AAS sich das Glaubwürdigkeit heischende Label erlangt hat. Auf jeden Fall beruft sich die AAS gerne darauf, um sich als seriöse Organisation darzustellen.
Es wäre an der Zeit, dass sich die Standesorganisation der Schweizer Ärzteschaft um den Verein Aids-Aufklärung kümmert. HIV-Desinformationen von Orthopäden, Gynäkologen und Psychiatern, das brauchen wir nicht. Sie zementieren Ängste, Stigma und Diskriminierungen gegenüber Menschen mit HIV unter dem Deckmantel eines fundamentalistischen Verständnisses von Public Health.
Dr. Kurt April, Präsident der AIDS-Aufklärung Schweiz, legt Wert auf folgende Feststellung:
«Bei der Gründung 1989 waren zwei von 9 Vorstandsmitglieder der Aufklärung Schweiz dem VPM nahestehend. Seit mehr als 15 Jahren distanziert sich die AIDS-Aufklärung Schweiz unmissverständlich vom VPM. Die AIDS-Aufklärung Schweiz hat nichts, aber auch gar nicht gemeinsam mit den Meinungen des damaligen VPM und seinen Nachfolgeorganisationen. Es bestehen auch keine organisatorischen, personellen oder finanziellen Verflechtungen mit VPM-Nachfolge-Organisationen. Hugo Stamm kennt diesen Sachverhalt.»
Der Positivrat hält an seiner Darstellung fest.
Seit gut drei Jahren ist in Fachkreisen anerkannt dass HIV Patienten nicht mehr ansteckend sind wenn sie die richtige Therapie erhalten. Das heisst jeden Tag ein Medikamentencocktail und regelmässige Blutuntersuche. Dennoch riskieren HIV Positive Gerichtsverfahren und Strafen wenn sie ungeschützt Geschlechtsverkehr haben. Kann die infizierte Person nicht glaubhaft machen, dass ihr Partner von der Ansteckung wusste, ist eine Strafe wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung die Regel auch wenn keine Ansteckung vorliegt.
Immer wieder kommt es vor dass HIV Positive von ehemaligen Partnern deswegen angezeigt werden.
TagesAnzeiger, 09.02.2012, Auflage/ Seite 197034 / 1 8294, Ausgaben 300 / J. 9461864 / Tagi_12_02_09.pdf
Zürich, den 23. September 2013. Das Volk sagt Ja zum neuen Epidemiengesetz. Damit wird eine langjährige Diskriminierung von Menschen mit HIV im Strafrecht beseitigt. Mit dem neuen Epidemiengesetz ist die Verbreitung einer gefährlichen menschlichen Krankheit nur strafbar wenn der Täter aus gemeiner Gesinnung handelte.
Die letzten Jahre ergingen Dutzende von Strafurteilen gegen Menschen mit HIV wenn sie ungeschützten Sex praktizierten. Dies selbst dann, wenn ihre Sexualpartner vorgängig über die HIV-Infektion informiert waren. Mit der Annahme des neuen Epidemiengesetzes wird diese Ungerechtigkeit beseitigt. Wer seine Sexualpartnerin oder seinen Sexualpartner über die HIV-Infektion informiert, muss künftig nicht mehr befürchten, für Verbreitung oder versuchte Verbreitung einer gefährlichen menschlichen Krankheit bestraft zu werden. Dann werden nur noch Personen bestraft, die aus gemeiner Gesinnung handelten. Internationale Studien belegen, dass viele aus Angst vor einer Strafverfolgung sich nicht auf HIV testen lassen oder ihre Sexualpartner nicht über die HIV-Infektion informieren. Der Positivrat ist erleichtert über den Ausgang der Abstimmung und ist froh, dass wir im Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV einen Schritt vorwärts gekommen sind.
Weitere Informationen: www.positivrat.ch
Kontakt: Bettina Maeschli, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, 076 412 33 35
Sekretariat: Vinicio Albani, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, 076 373 34 86
Positivrat Medienmitteilung EpG.pdf
Der Positivrat ist ein Fachgremium, welches sich für die Interessen der Menschen mit HIV einsetzt. Er besteht aus Menschen mit HIV, ihren Angehörigen oder Fachpersonen, die sich mit ihnen solidarisieren. Seine Mitglieder verfügen über berufliches oder persönliches Wissen und Erfahrungen in medizinischen, pflegerischen, psychosozialen, politischen oder kommunikativen Belangen. Der Positivrat ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich.
Auch noch 30 Jahre nach der Entdeckung von HIV und AIDS waren die Menschenrechte am High Level Meeting on AIDS (HLM) der UNO ein zentrales Thema. Mitglieder der Zivilgesellschaft erreichten, dass auch in der neuen „Political Declaration on HIV/AIDS“ die Menschenrechte explizit aufgeführt sind und die zukünftigen globalen HIV-Strategien mitprägen.
Im Juni 2011 fand mit dem High Level Meeting on AIDS nach UNGASS 2001 in New York die zweite aussergewöhnliche Generalversammlung zu AIDS der Vereinten Nationen statt. Die UN-Mitglieder blickten zurück auf 10 Jahre HIV-Arbeit und legten mit einer neuen „Political Declaration on HIV/AIDS“ die zukünftige Ausrichtung der HIV/Aids-Arbeit fest. Präsident Joseph Deiss hatte ausdrücklich die Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft zum ausserordentlich HLM eingeladen. Diese forderten, dass die Declaration 2011 das Einhalten der Menschenrechte für alle explizit betone, klare und quantifizierbare Ziele formuliere und gefährdete Bevölkerungsgruppen benenne.
Gesundheit ist auch ein Menschenrecht
Die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte geht zurück auf den Pionier im HIV/AIDS-Bereich, den Gesundheitswissenschaftler Dr. Jonathan Mann. Gesundheit sei ein Menschenrechtsthema, erklärte Mann, und stellte damit den Link zwischen Menschenrechten und Gesundheit her. Im HIV/AIDS-Bereich sind die Menschenrechte wichtig, weil, so Jonathan Mann 1998, „HIV zu einem Problem der „exclus“ – der Ausgeschlossenen, d.h. derer, die am Rande der Gesellschaft lebten - geworden sei“. Es gelang an der ersten aussergewöhnlichen UNO Versammlung zu HIV/AIDS UNGASS, die Menschenrechte explizit in die „Declaration of commitment“ 2001 zu integrieren. Im Vorfeld von HLM 2011 stand das Integrieren der Menschenrechte in die Declaration auf Messers Schneide.
Beispiel: HIV in der Ukraine
Die HIV-positive Ukrainerin Tatyana Anasiadi sprach in ihrer Eröffnungsrede über die in ihrem Land «am schnellsten wachsende HIV-Epidemie». Sie berichtete, dass eine substitutionsgestützte Behandlung ihr ermögliche, ein normales Leben in Würde zu führen, zu arbeiten und sich um ihren 11-jährigen Sohn zu kümmern. Tatyana erklärte, dass von den 30‘000 Drogenabhängigen in der Ukraine, die Behandlung benötigten, nur 6‘000 Zugang zu antiretroviraler Therapie haben. Weil Drogenabhängigkeit als Straftat gelte, würden den Drogenabhängigen die Behandlung ihrer HIV-Infektion verwehrt und Massnahmen zur Verminderung von HIV-Infektionen wie z.B. Spritzentauschprogramme unterdrückt.
Tatyana plädierte dafür, dass antiretrovirale Behandlung für alle Drogenabhängigen zugänglich gemacht werde. „Mein Leben und meine Gesundheit sowie die Gesundheit von Millionen von Menschen hängen von Ihrer Entscheidung ab“, appellierte Tatyana an die UN-Delegierten. Man solle mit einer „starken“ Deklaration allen Menschen Zugang zu HIV-Behandlung ermöglichen. Mit einer „starken“ Deklaration meint sie eine, die die Menschenrechte garantiert und damit Zugang für alle zu Prävention, Behandlung und Pflege bei HIV/AIDS schafft.
Die Integration der Menschenrechte in die Deklaration ermöglicht Drogenabhägigen weltweit und in Osteuropa, ihr Recht auf antiretrovirale Behandlung einzufordern. In der Deklaration 2011 sind mit den Artikeln 78 – 85 die Menschenrechte enthalten.
UNAIDS Direktor Michel Sidibé beschrieb das HLM als «definierenden Moment» in der Aids-Geschichte und sprach von seiner Vision: «Zero New Infections. Zero Discrimination. Zero AIDS-Related Deaths». Um diese Vision umzusetzen, braucht es zur „starken“ Deklaration 2011 auch den Willen der Regierungen, diese politische Erklärung in konkrete Taten umzusetzen.
Text: Romy Mathys
http://www.unaids.org/en/media/unaids/contentassets/documents/document/2011/06/20110610_UN_A-RES-65-277_en.pdf
POSITIV 2/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
Richards Doppelinfektion mit HIV und Syphilis hat nicht nur sein Leben, sondern auch seine Einstellung dazu komplett verändert. Seine bereits ins dritte Stadium fortgeschrittene Syphilis-Erkrankung konnte zwar geheilt werden, verursachte aber zuvor Schädigungen am Gehirn.
Bis vor Kurzem fühlte sich Richard* noch kerngesund. Und da er nie krank war, hatte der selbständige Geschäftsmann nicht mal einen festen Hausarzt. Im Sommer 2006 machten sich dann aber erste Symptome zweier Infektionen bemerkbar, die Richard von da an sein Leben lang beschäftigen sollten. Angefangen hatte alles mit einer vermeintlichen Erkältung, gefolgt von einer weiteren, von der sich Richard aber nicht mehr richtig erholte. „Ich war darauf permanent erschöpft und verlor merklich an Gewicht“, erinnert er sich. „Als dann auch noch meine linke Hand andauernd zitterte, war ich überzeugt, dass etwas mit meinem Körper nicht mehr stimmte und kriegte Angst.“ Richard gingen alle möglichen Krankheiten, die er haben könnte, durch den Kopf – nur nicht jene, die später diagnostiziert wurden: HIV und Syphilis im fortgeschrittenen Stadium.
Syphilis griff Hirn an
Der Arzt, der die Diagnose stellte, meldete Richard unmittelbar zu einem ambulanten neurologischen Untersuch im Spital an. Doch Richards Gesundheitszustand war so ernst, dass er das Spital vorerst nicht mehr verlassen konnte. Denn die bereits ins dritte Stadium fortgeschrittene Syphilis hatte eine Hirnhautentzündung verursacht und das HI-Virus einen Grossteil seiner CD4-Zellen, die helfen Infekte abzuwehren, zerstört.
Penizillin, Kortison, Insulin, Virostatika – die Behandlung von Richards HIV- und Syphilis-Ko-Infektion und deren Folgen kam einer Rosskur gleich. „Wäre ich gestorben, hätte man mich als Sondermüll entsorgen müssen“, scherzt Richard, der trotz möglicherweise bleibenden Hirnschäden seinen Humor nicht verloren hat.
Richard erinnert sich nur ungern an die Zeit, als er nicht nachvollziehen konnte, was mit seinem Körper passierte. „Einem Gespräch zuzuhören war mir damals unmöglich. Denn es schien mir, als hörte ich mit einem Ohr schneller als mit dem anderen und dies verursachte ein totales Chaos in meinem Kopf.“ Die Hirnhautentzündung zog auch den Sehsinn in Mitleidenschaft. Um etwas scharf sehen zu können, musste er ein Auge schliessen. Doch Augen und Ohren waren intakt, sein Gehirn jedoch nicht mehr, was immer wieder seine Konzentrationsfähigkeit ausser Gefecht setzte und seine Motorik auf der linken Seite nicht mehr funktionieren liess.
Positiv HIV-positiv
Als er nach mehreren Wochen aus dem Spital entlassen wurde, schaffte es Richard kaum, die zwei Treppen zu seiner Wohnung zu bewältigen. Nachdem er die Stufen in den folgenden Wochen und Monaten unzählige Male hinauf und hinunter gestiegen ist, um seine Muskulatur wieder aufzubauen, gelangt er heute wieder ohne grosse Mühe in seine Wohnung. Doch auch ein Jahr nach dem Spitalaufenthalt vergeht fast kein Tag, an dem er nicht infolge seiner Einschränkungen in Beweglichkeit, Feinmotorik und Konzentration an Grenzen stösst. „Es gibt schon immer wieder mal Momente, bei denen ich mich frage: Bin ich jetzt nur noch unnötiger Ballast?“ erzählt Richard. Doch dies komme glücklicherweise nicht oft vor, denn eigentlich liege es ihm fern, mit dem Schicksal zu hadern. „Trotz geteilter Meinung der Ärzte gebe ich nach wie vor die Hoffnung nicht auf, dass ich irgendwann wieder ganz auf die Beine kommen werde“, sagt der Selbstständigerwerbende, der immer noch arbeitsunfähig ist.
Zuversicht und Kraft, um weiter zu kämpfen, findet Richard in der Meditation und in der Beziehung mit seinem langjährigen Partner. „Ich bin so unsagbar froh, dass ich ihn nicht mit HIV angesteckt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit fertig geworden wäre. Denn in meinem Leben ist er der Glücksfall schlechthin.“ Schöne, aber alltägliche Erlebnisse erfreuen Richard heute viel mehr als früher: „Wenn ich bei schönem Wetter die Sonne auf meiner Haut spüre und merke, dass ich noch am Leben bin, dann ruft das in mir manchmal ein starkes Gefühl von Glück und Dankbarkeit hervor.“
Die Folgen seiner Ko-Infektion haben Richard nicht nur körperlich verändert, sondern auch seine Wertvorstellungen. „Mir ist bewusst geworden, dass viele automatische körperliche Abläufe gar nicht so automatisch und selbstverständlich sind. Ich schätze deshalb all die Dinge, die ich trotz meinen Defiziten tun kann und erfreue mich über jeden noch so winzigen Fortschritt.“
*Name von der Redaktion geändert
Text: Markus Fleischli, Bild: photocase.com
POSITIV 2/2011 © Aids-Hilfe Schweiz
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